Stephan Kuntz, Michael Passolt, Jürgen Schindler


Motopädagogik - Psychomotorik
Entwicklung von Begriffsbestimmungen

Die deutsche Psychomotorik hat vielschichtige historische Wurzeln (1) und mit Jonny KIPHARD (2) unseren geistigen Mentor, der zusammen mit Georg KESSELMANN, Ingrid SCHÄFER und Helmut HÜNNEKENS über den Ansatz 'Bewegung heilt' eine Psychomotorische Übungsbehandlung (PMÜ) entwickelte. Ingrid SCHÄFER hat 1989 die Zielmarkierung der PMÜ so beschrieben: "Förderung der gesamten Körperlichkeit (Sinnes- und Bewegungsschulung), des Selbstwertgefühls und des Gemeinschaftsgefühls, um damit eine Harmonisierung des psychomotorischen Funktionsgefüges und eine tiefgreifende Verbesserung des emotional-sozialen Verhaltens zu bewirken" (21). Einerseits ging es um die Erfahrung der Körperlichkeit, Wahrnehmung, Bewegungsschulung, andererseits um ein psychomotorisches Funktionsgefüge im emotional-sozialen Bereich. Spielerischen Themen standen im Vordergrund, wie: 'Wir bauen einen Bus' - 'Wir fliegen auf den Mond' - 'Robinson und Bienenkönigin' - Tiergeschichten und Rollenspielhandlungen. Aus der praktischen Arbeit gab es Überlegungen, wissenschaftlich nachzuweisen, wie Psychomotorik wirkt. Mit dieser Herangehensweise erhielt der Begriff "Psychomotorische Übungsbehandlung" (aus dieser Idee ist ja auch auf organisatorischer Ebene der Aktionskreis Psychomotorik entstanden) in der Folge den Schwerpunkt 'Motorik'. In diesem Kontext sind einige der nachfolgenden Zitate zu sehen: "Der Motologe betrachtet die menschliche Persönlichkeit unter dem Aspekt der Motorik" (BUNDESANSTALT,1988,2). "Die Motologie sucht so eine eigene Theorie der motorischen Entwicklung und des motorischen Lernens aufzustellen" (SCHILLING, 1981,188). Motologie ist "die Lehre von der Motorik als Grundlage der Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit des Menschen, ihrer Entwicklung, ihrer Störungen und deren Behandlung"(SCHILLING 1981,187; vgl. auch SCHILLING 1986).

Schon Mitte der 80er Jahre hat Susanne PRECHTL in der Zeitschrift 'motorik' den Umschwung zur Theoriebildung mit einer defizitären Thematisierung der subjektiv-emotionalen Erlebnisqualitäten menschlicher Bewegung in Verbindung gebracht: "Meine Kritik an den bisher vorliegenden Ansätzen einer theoretischen Fundierung des Konzepts der Motopädagogik richtet sich gegen die defizitäre Sichtweise des subjektiven Erlebens von Bewegungsvollzügen und der einseitigen Betonung sozial vorbestimmter, funktionaler Handlungsfähigkeit" (1986,126). Neue Denkweisen und Theorieströmungen haben diesen Mangel immer wieder thematisiert und aufgegriffen, so z.B. die 'Therapeutisch Orientierte Bewegungserziehung' ('TOB') (KESSELMANN 1984; 1993), im Ansatz einer 'Verstehenden Motologie' (MATT-NER 1992, SEEWALD 1992,1993), der Arbeit über Ressourcen, Protektive Faktoren, Arbeit in Netzwerken, etc. (PETZOLD 1993; LÜPKE / VOSS 1994; PETZOLD 1995, 345ff; PET-ZOLD 1996; METZMACHER / ZAEPFEL / PETZOLD 1996; KUNTZ 1997; PASSOLT 1999 i.V.).


Was ist Psychomotorik und was ist Motopädagogik?

Psychomotorik und Motopädagogik sind ganzheitliche Konzepte zur Entwicklungsförderung und zur speziellen v.a. gruppenorientierten Intervention im besonderen bei Kindern und Jugendlichen von ca. 3 bis 12 Jahren. Über das Medium Bewegung, in kreativen und phantasiegeleiteten Handlungsplanungen wird ein Selbstkonzept erarbeitet, das über seine Wirkmächtigkeit persönlichkeitsbildend und verhaltensstabilisierend ist. Die inhaltliche Arbeit kann je unterschiedlich ausgeprägt sein. Einerseits mehr motopädagogisch, andererseits stärker psychomotorisch.

Motopädagogik ist dabei zu verstehen als eine spielerische Bewegungserziehung, als ein Konzept 'Erziehung durch Bewegung', das die motorischen Grundbewegungsmuster als spaß- und als sinngebende, als insgesamt lustbetonte Motorik vermittelt. Motopädagogik ist eher präventiv und nachsorgend ausgerichtet. Mit der erweiterten Grundhaltung, psychische und motorische Aspekte gleichermaßen in die Arbeit einzubeziehen, ist Motopädagogik auch einzubetten in den Begriffszusammenhang der Psychomotorischen Erziehung.

Liegt in der Arbeit eine Grundhaltung vor, die auf dem Bedeutungsgehalt von Psyche - Motorik mehr kontextorientiert ausrichtet ist und umfassend seelische, systemisch- und familienorientierte Aspekte von Förderung zugrundelegt, so kennzeichnet sich diese Arbeitsform als Psychomotorische Therapie. Eine Eigenanalyse und/oder eine therapeutisch orientierte Methode differenzierter Selbstwahrnehmung ist unabdingbar. Therapeutische Reflexion zu Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen sind Voraussetzung und ständige Begleitung der praktischen Therapiearbeit. Die Psychomotorische Therapie kann nach sorgfältiger Ausbildung nur durch ärztliche Überweisung und in Zusammenarbeit mit Psychologen und Medizinern, oft auch anderen therapeutischen Berufsgruppen erfolgen. Die Psychomotorische Therapie ist orientiert auf die Erhellung therapeutischer Zusammenhänge von ineinandergreifenden seelischen und motorischen Prozessen und einen leibhaftigen, seelisch-körperbezogenen Zugang unter der je eigenen Biografie sowohl von Klienten wie TherapeutInnenseite. So wie Psychomotorik (i.e.S. 'Psychomotorische Übungsbehandlung') historisch der klinischen Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen entstammt, so ist sie ein entwicklungsförderndes Konzept mit speziellen Interventionen und Zielhorizonten. Diese Inhalte sind in phantasiegeleitete und kreative Handlungssequenzen integriert, eingebettet in die ziel- und selbstkonzeptorientierte Verbesserung der affektiven Erlebnisfähigkeit und der sozialen Verhaltensregulation. Dabei wird zielorientiert der Entwicklung und Reifung der Gesamtpersönlichkeit in ihren kognitiven, emotionalen und sozialen Aspekten Rechnung getragen. Die zeitlich begrenzte Therapie soll psychomotorische Entwicklungsblockaden mildern oder aufheben sowie dazu beitragen, eine drohende dauerhafte Entwicklungsstörung zu verhindern. In diesem Prozeß von Entwicklungsbegleitung ist Psychomotorische Förderung je unterschiedlich geprägt und mal mehr pädagogisch, heilpädagogisch oder therapeutisch angelegt.

Die Psychomotorische Therapie ist damit gekennzeichnet als eine eigenständige Therapieform und somit auch abzugrenzen von funktionstherapeutischen Behandlungsmethoden, wie z.B. Sport- und Mototherapie, Physiotherapie, Beschäftigungstherapie oder Logopädie. Psychomotorische Therapie grenzt sich zudem ab von motopädagogischen, heilpädagogischen und sonderpädagogischen Fördermaßnahmen. Derartig gestaltete Fördermaßnahmen können nach abgeschlossener Psychomotorischer Therapie aber durchaus sinnvoll und angezeigt sein. Die Kooperationen zwischen Psychomotorischen Therapieeinrichtungen und sog. Psychomotorischen Elternvereinen sind dafür ein gutes Beispiel.


An wen richtet sich unsere Arbeit?
Wie benennen wir unsere Arbeit auf dem Hintergrund der praxeologischen Schilderungen ?


MotopädagogInnen / PsychomotorikerInnen arbeiten in ihrem jeweiligen Schwerpunkt mit Kindern und Jugendlichen, die in einem deutlich anwachsendem Ausmaß hyperaktiv, hypoaktiv, spracharm, ängstlich und sozial auffällig sind; ebenso auch mit Kindern, die mit verdeckten Wahrnehmungs- und Bewegungsauffälligkeiten kommunizieren. Diese Kinder können durch ihre Schwächen und Probleme in einen Teufelskreis geraten: Es sind Kinder, die z.B. durch die Leistungsanforderungen ihrer Umwelt überfordert sind und die von Eltern, Lehrern und Erziehern oft mit dem Attribut 'Leistungsverweigerer' belegt werden. Diesen Kindern werden sehr oft ihre möglichen Ressourcen vorenthalten, sie haben schlechten Zugriff auf schützende, protektive Faktoren und ihnen bleiben wichtige sozialökonomische Strukturen und Kontexte verschlossen. Mit diesen Abhängigkeiten geraten sie sehr schnell bei Spielkameraden in soziale Isolation, zeigen Mißerfolgserwartungen und entwickeln folgerichtig ein negatives Selbstkonzept. (3)

Die Inhalte unserer Arbeit vermitteln wir dialogisch, prozeß- und entwicklungsorientiert. Da die globalen gesellschaftspolitischen Entwicklungsaspekte immer wuchtiger und individualisierter auf kindliche Entwicklung einwirken, erweitert sich unser Blick auf gesellschaftspolitische Zusammenhänge und mögliche protektive Faktoren. Durch die Konzentration des Blickwinkels kann eine Entlastung, Stützung und subjektorientierte Zielgerichtetheit für entwicklungsbedürf-tige Kinder, deren Eltern und auch gesellschaftlicher Träger erreicht werden. Dialog, Mehrperspektivität und Transversalität werden zur Richtschnur unserer Arbeit (4). Motopädagogik, Psychomotorische Erziehung und Psychomotorische Therapie wird somit als ressourcenorientierte, netzwerkumfassende Aufgabenstellung erfasst und salutogene, benigne und protektive Faktoren können aufgespürt und in einen arbeitsförderlichen Zusammenhang gebunden werden.


Anmerkungen
  1. vgl. Michael Passolt, Perspektiven der Psychomotorik. Standortbestimmung und Ausblick, in: Forum Psychomotorik. Interaktives Bulletin für Mehrperspektivität, Transversalität und Diskurs. Die Psychomotorische Internetzeitschrift, (1) 1/1999, www:ibp-psychomotorik.de
  2. Vgl. eine von Ingrid Schäfer erstellt Literatur von Kiphard: Schäfer, Ingrid (1989): Veröffentlichungen von E.J.Kiphard bis 1975, in: Irmischer, Tilo / Klaus Fischer (Red.), Psychomotorik in der Entwicklung. Zur Emeritierung von Prof.Dr. Ernst J. Kiphard, Reihe Motorik, Band 8, Schorndorf: Hofmann, S.225-229
  3. Zimmer, Renate: Handbuch der Psychomotorik. Theorie und Praxis der Psychomotorischen Förderung von Kindern. v.a. S.51 ff. Freiburg: Herder 1999
  4. vgl. Michael Passolt, Perspektiven der Psychomotorik. Standortbestimmung und Ausblick, in: Forum Psychomotorik. Interaktives Bulletin für Mehrperspektivität, Transversalität und Diskurs. Die Psychomotorische Internetzeitschrift, (1) 1/1999, www:ibp-psychomotorik.de
Literatur
  • Bundesanstalt für Arbeit (1988): Blätter zur Berufskunde. Diplom-Motologe/ Diplom-Motologin, Band 3, Nürnberg
  • Kesselmann, Georg (1984): Therapeutisch-orientierte Bewegungserziehung im Rahmen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Betreuung, in: motorik Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie, Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik, Schorndorf: Hofmann 2/1984, S.74-85
  • Kesselmann, Georg (1993): Konzeption und Wirksamkeit in der Mototherapie, Reihe Psychomotorik in Forschung und Praxis, Bd. 14, Kassel: Gesamthochschule
  • Kuntz, Stephan (1997): Vernetzte Psychomotorik in Theorie und Praxis. In: Gerber, Reinelt (Hg.): Schriftenreihe der Arbeitsgruppe für Sonder- und Heilpädagogik der Universität Wien, Wien
  • Lüpke, Hans von / Reinhard Voß (1994): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. Pfaffenweiler: Centaurus
  • Mattner, Dieter (1992): Verstehen von bewegter Lebenswirklichkeit, in: motorik Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie, Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomotorik, Schorndorf: Hofmann 4/1992, S.201f
  • Metzmacher, Bruno / Hilarion Petzold / Helmut Zaepfel (Hrsg.)(1996): Therapeutische Zugänge zu den Erfahrungswelten des Kindes von heute. Integrative Kindertherapie in Theorie und Praxis. Band 1, Paderborn: Junfermann
  • Passolt, Michael (1999 i.V.): Vernetzte Psychomotorik. Thesen für eine netzwerkorientierte psychomotorische Therapie in den Schnittstellen von Alltag, Familie, Schule und Gesellschaft, am Beispiel hyperaktiver Kinder, in: Fischer, Klaus, Holland-Moritz, Holger (Hrsg.): Mosaiksteine der Motologie: Festzeitschrift für Friedhelm Schilling, Schorndorf: Hofmann
  • Petzold, Hilarion G.(1993): Psychotherapie und Babyforschung. Frühe Schädigung - späte Folgen? Band 1. Paderborn: Junfermann
  • Petzold, Hilarion G.(1995): Psychotherapie und Babyforschung. Die Kraft liebevoller Blicke. Band 2. Paderborn: Junfermann
  • Petzold, Hilarion G.(1996): Weggeleit, Schutzschild und kokreative Gestaltung von Lebenswelt - Integrative Arbeit mit protektiven Prozessen und sozio-ökologischen Modellierungen in einer entwicklungsorientierten Kindertherapie, in: Metzmacher, Bruno / Hilarion Petzold / Helmut Zaepfel (Hrsg.)(1996): Therapeutische Zugänge zu den Erfahrungswel-ten des Kindes von heute. Integrative Kindertherapie in Theorie und Praxis. Band 1, Paderborn: Junfermann, S.169-280
  • Prechtl, Susanne (1986): Kommt der Aspekt des subjektiven Bewegungserlebens in der Theorie der Motopädagogik zu kurz?, in: motorik, Zeitschrift für Motopädagogik und Mototherapie, Offizielles Organ des Aktionskreises Psychomoto-rik, Schorndorf: Hofmann 4/1986, S.120-126
  • Schäfer, Ingrid (1989): Grundbausteine der Psychomotorischen Übungsbehandlung, Entwicklungsabschnitt 1955 bis 1975, in: Irmischer, Tilo / Klaus Fischer (Red.), Psychomotorik in der Entwicklung. Zur Emeritierung von Prof.Dr. Ernst J. Kiphard, Reihe Motorik, Band 8, Schorndorf: Hofmann, S.19-31
  • Schilling, Friedhelm (1981): Grundlagen der Motopädagogik, in: (Hrsg.A.Clauss): Förderung entwicklungsgefährdeter und behinderter Heranwachsender, Erlangen: perimed
  • Schilling, Friedhelm (1986): Zur Situation von Psychomotorik-, Motopädagogik- und Mototherapie, in: Der Kinderarzt, 17 (1986) 5, S.726-735
  • Seewald, Jürgen (1992): Vorläufiges zu einer 'Verstehenden Motologie'. In: motorik 4, 204-221
  • Seewald, Jürgen (1993): Entwicklungen in der Psychomotorik. In: Praxis der Psychomotorik 4, 188-193