VI

Zum Abschluß möchte ich auf ein Lebensgefühl hinweisen, das viele der schließlich normalisierten Individuen immer stärker vermissen. Die der Normalität zugeordneten Wiederholungen, Erwartungsstabilitäten, Routinen, Standardisierungen, Pflichtversicherungen und Vorsorgepakete lassen Wünsche und Sehnsüchte entstehen, dieser Normalität des Alltags Adieu zu sagen. Bereits der literarischen Romantik waren die Negativseiten der Normalität bewußt. Den von ihr wahrgenommenen Verlust von Individualität, Mannigfaltigkeit, Risiko, Abenteuer, von Abwechslung, Bewegung, Unregelmäßigkeit kompensierte sie in literarischen Entwürfen, in denen die Bedeutung der Begriffe: seltsam, wunderlich, sonderbar merkwürdig, außerordentlich, erstaunlich, überraschend, kurios, plötzlich eine zentrale Rolle spielte (vgl. hierzu PIKULIK 1979). Auch wenn NOVALIS seine Dichterkollegen aufforderte, die normale Welt romantisierend zu verändern, womit er meinte, dem Gemeinen einen hohen Sinn zu verleihen, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten und dem Endlichen einen unendlichen Schein zu geben, so sind die Versuche doch weitgehend ästhetisches Programm geblieben und nicht praktisch geworden. Wie aber sieht es heute mit den Ausbruchssehnsüchten aus der Normalität aus?

Den Ehemann, der seiner Frau sagt, er wolle nur schnell mal ein Päckchen Zigaretten ziehen und dann nicht mehr wiederkommt - den gibt es zwar, aber er ist ein seltenes Exemplar. Schon aus Gründen ihrer Bestandserhaltung kann sich eine Gesellschaft dieses Modell des Ausstiegs nicht leisten. Sie muß erträglichere Modelle für die Ausbruchsversuche aus dem Drehbuch der Alltagsroutine bereitstellen. (Zur kaum überschaubaren Vielfalt von Ausbruchsversuchen COHEN/TAYLOR 1980). Immer öfter stürzen sich die Pflichtversicherten in abenteuerliche Aktivitäten, die ihnen die Gesellschaft offeriert. Es haben sich mittlerweile riesige „Erlebnismärkte“ gebildet, auf denen die Abenteuer und ihre Utensilien angeboten werden. Da gibt es Free-Climbing in Südfrankreich, entbehrungsreiche Kämpfe in den Wasserwüsten des Atlantiks, Opalsuche in Australien, Bodyflying und Skydiving in Kalifornien, Canyoning in Spanien - es gibt keinen Dschungel, der nicht mit irgendeinem Safari-Angebot abgedeckt wäre. Jeder Kontinent wird zu einem Pool für abenteuerliche Aktivitäten.

Die Wege aus dem normierten Leben scheinen allerdings geradewegs ins normierte Abenteuer zu führen. Alle Angebote haben doppelte Sicherungen und eine Rückfahrkarte. Allerdings helfen die Vorräte an Erinnerungen, die von den Abenteuern mitgebracht werden, den Individuen die Normalität des Alltags bis zum nächsten Instant-Abenteuer zu ertragen (vgl. auch KÖCK 1990).

Aber auch mitten in den Alltagsroutinen findet die Sehnsucht nach dem Ausbruch Inszenierungsmöglichkeiten. Mit Hilfe der Dingwelt des Abenteuers hat sich eine Art Lebensstil des Ausnahmezustandes gebildet. Wolfskin-Hosen mit Bein- und Messertaschen aus reißfestem und wasserabweisendem Material, Taschenmesser, die einem Miniaturwerkzeugkasten gleichen, Timberland-Schuhe, deren Sohlen für steinige Wege und nicht für den Asphalt entwickelt wurden, der Anorak, dessen Nützlichkeit eigentlich erst in den Eiswüsten der Arktis deutlich wird oder der Off-Road-Wagen, mit Abweisgitter gegen Steinschlag und gegen Exemplare der Großwildgattung vor seinen Lampen - sie alle ermöglichen ihren Trägern bzw. Besitzern, den Mitbürgern eine Botschaft über ihre „Wunschidentität“ mitzuteilen. Dargestellt wird hier eine anscheinend nicht normierte „naturbelassene“ Identität, die kein bequemes Leben sucht, die sich dabei nur auf die eigenen Kompetenzen verläßt, die sich mit Widerständen aktiv auseinandersetzt, die das Unwegsame und das Herausfordernde sucht und die in der Wärme und Geborgenheit der Zivilisation und Alltagsroutine noch mit dem Äußersten rechnet. Selbst die Jungs in der Dorfkneipe, die mit dem Piepser am Gürtel, der - leider oder Gott sei Dank - nie piepst, die beim gemütlichen Dämmerschoppen am Tresen stehen, demonstrieren unbewußt, daß diese Gemütlichkeit jederzeit von der Ausnahmesituation bedroht ist und, daß man eigentlich immer im Einsatz und auf der Hut sein muß. Die Nobelversion des Piepsers ist das Handy. Als Distinktionsmerkmal der Wichtigkeit erlaubt es seinem Besitzer, der Umwelt mitzuteilen, daß er stets mit einem überraschenden Anruf rechnen muß. Auch er muß gegenwärtig sein, daß ihn der Ausnahmezustand selbst in den belanglosesten und schönsten Situationen telefonisch erreichen kann.

Während dieses Spiel mit den Zeichen für die Geltung von Normalität belanglos bleibt, gibt es doch auch tatsächliche Ausbruchsversuche vor allem von Jugendlichen. Großstädte sind für viele Jugendliche zur Kulisse für die Suche nach nervenkitzliger Action, für provokative Mutproben, für aggressive Randale oder für körperliche Gewalt geworden. Sie brechen Autos auf, liefern sich in den geklauten Karossen aufregende Rennen auf mehr oder weniger leeren nächtlichen Straßen, die häufig mit Unfällen enden, hin und wieder kommt es zu Verfolgungsjagden mit der Polizei, was einen zusätzlichen Kitzel verspricht, andere rasen im Zick-Zack-Kurs über beschrankte Bahnübergänge vor allem dann, wenn die herannahenden Züge bereits in lebensbedrohender Nähe sind, wieder andere fahren die geklauten Autos gegen die Wand, um herauszufinden, ob der Airbag auch wirklich seine Funktion erfüllt, noch andere klettern aus dahinrasenden S-Bahnen, um sich dem über den Fahrtwind vermittelten Geschwindigkeitsrausch hinzugeben. Die Möglichkeit des tödlichen Ausgangs der Aktionen ist immer miteinbegriffen.

Eine lapidare Feststellung, hier handele es sich schlicht um abweichendes Verhalten, greift zu kurz. Interpretiert man die Aktivitäten vor dem Hintergrund der jugendlichen Alltagserfahrungen, dann erscheinen sie in einem anderen Licht. Viele der Jugendlichen sind tagtäglich mit Situationen konfrontiert, in denen ihnen soziale Unterlegenheit und soziale Erniedrigung vermittelt werden, zumindest aber die Erfahrung der Gleichgültigkeit, die ihnen signalisiert, daß man sie für entbehrlich hält (vgl. zu diesem Gefühl NECKEL 1991, 344 f.). In der Schule wird ihre Inkompetenz öffentlich über Noten, Klassenwiederholungen oder fehlende Schulabschlüsse deutlich, der Arbeitsmarkt hält keine Ausbildungsplätze für sie bereit, in der Familie erfahren sie keine Unterstützung, Wohnverhältnisse vermitteln keine Geborgenheit, die Zukunft läßt nicht erwarten, daß sich die Erfahrungen der Gegenwart ändern werden.

Entwertungserfahrungen dieser Art gefährden auf massive Weise das Selbstbild und die Selbstachtung der Jugendlichen. Die als Angriffe auf das Selbstbild gemachten Erfahrungen sind häufig die affektiv besetzte Antriebsbasis für die oben beschriebenen Aktionen der Jugendlichen. Über die körperlichen Aktivitäten kann die lähmende Situation der Erniedrigung und Mißachtung (vgl. hierzu HONNETH 1992) vergessen gemacht werden. Die Aktionen sind Äußerungsformen, mit denen Selbstwertgefühle aufgebessert und soziale Achtung in der Gruppe hergestellt werden können. Ob die Aktivitäten selbst- oder fremdschädigend sind, ist für die Subjektlogik nahezu vollkommen unerheblich. Wichtig ist die Wiederherstellung eines positiven Selbstbildes - ganz gleich, wie dies geschieht (BECKER 1994).

Trifft diese Interpretation zu, dann sind die Reaktionen der Jugendlichen gewissermaßen angemessene Reaktionen auf Situationen, die keine „normale“ Entwicklung zulassen. Unter der Voraussetzung der Aufrechterhaltung eines entsprechenden Selbstwertes ist nicht die Anpassung an die Situationen, die die Anerkennung verweigern, angemessen sondern vielmehr sind es die Ausbruchsversuche, die den Jugendlichen ein Stück ihres verlorengegangenen Selbstwertgefühls zurückgeben. Wenn sich normal und unnormal verkehren, welche Seite - die Lebensverhältnisse der Jugendlichen oder ihre Aktionen - muß dann aber normalisiert werden? Müßte nicht vor jeder Normalisierungsarbeit die Mahnung ADORNOs (1988, 266) berücksichtigt werden:

„Denn verstört ist der Weltenlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der Exzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte“.

...weiter im Text...