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Ist einmal die Beziehung zwischen den äußeren Zeichen des Körpers und ihrer inneren Quelle hergestellt, dann hat die ars semiotica - so BÖHME (1988, 182) - ihre Stunde. Tagtäglich lesen wir in den Gesten, im Mienenspiel, in der Kleidung und den Gerüchen unserer Mitbürger und suchen nach Hinweisen, die uns ihre Absichten und Wünsche verraten, wir unterscheiden und klassifizieren nach den wahrgenommenen Zeichen. Auch KANT wußte dies, wie folgende Stelle aus seiner Vorlesung zur Anthropologie erkennen läßt

„ ... alles kommt hier auf den Eindruck an, und wo schon keine Regeln sind, da ist nichts Gewisses; aber auf der anderen Seite ist jeder Mensch ein Physionomiste, und urtheilt immer nach der Physionomie.“ (KANT zit. bei SCHMÖLDERS 1995, 56 f.)

Der Philosoph war allerdings klug genug, darauf hinzuweisen, daß diese Art des Zeichenlesens weder eine Kunst noch eine Wissenschaft sei. Wenn die äußeren Zeichen stellvertretend für das unsichtbare wahre Selbst stehen und von ihm verantwortet werden, dann wird noch einmal deutlich, wie wichtig die Scham für den gläsern gewordenen Mensch ist. Sie signalisiert ihm, wenn seine Zeichen in Unordnung zu geraten scheinen. Zugleich wird aber auch jetzt eine Politik der Zeichen möglich. Die Individuen können nun je nach Bedarf die gewünschte Identität präsentieren, ihr Selbst strategisch verhüllen oder offenbaren. ‘Authentizität’ und Inszenierung beginnen sich in die Quere zu kommen.

Wer in diesem Zusammenhang Zeichen zu setzen und Zeichen zu entziffern versteht, ist in einer günstigen Position. Wer mit dem Lexikon der Zeichen, ihrer Syntax und Pragmatik (BÖHME 1988, 182) umzugehen weiß, der kann je nach Situation seinen Kommunikationspartner ausspähen und ihm wahlweise ein inszeniertes Selbst als ein authentisches präsentieren. Dieses Phänomen der manipulierenden Selbstdarstellung, dieses Management des äußeren Eindrucks, das versucht, nicht kontrollierte Abweichungen von Standards des „richtigen“ und normierten Verhaltens zu vermeiden, um damit die größtmögliche Wirkung für die Durchsetzung der eigenen Interessen zu erzielen, hat eine Tradition in den Verhaltenslehren eines CASTIGLIONE, eines Freiherrn von KNIGGE oder eines Balthasar GRACIAN und reicht bis in die Soziologie und Psychologie des ‘Impression Management“ und des „Self-Monitoring“ nordamerikanischer Wissenschaftler wie GOFFMAN, SNYDER oder TEDESCHI.

Das strategische Spiel der Zeichen, um eine angepaßte gute Figur zu machen, bzw. die Politik mit der Differenz von Intention und Ausdruck wird zu einer Kompetenz der sozialen Auseinandersetzung vor allem dort, wo es um den Erfolg der Kommunikation geht. Nur derjenige hat Erfolg, der in der richtigen Situation, die richtige Fassade zu präsentieren weiß. Und welche Fassade heute in Zeiten der „deregulierten“ Auseinandersetzung um persönliche und ökonomische Marktanteile die richtige ist, das weiß z.B. Frau Veronika ZICKENDRAHT (1993). Deshalb gehört sie zu dem riesigen Heer von Beratern und Beraterinnen, die uns ihre Hilfen für körperliche Oberflächeninszenierungen anbieten (vgl. hierzu ausführlich KEUPP 1994). Der von Frau ZICKENDRAHT verfaßte Ratgeber soll - wie sie schreibt - dazu dienen

„ ... ein Feeling zu entwickeln, das es Ihnen möglich macht, Ihre Persönlichkeitsmerkmale und Ihr Image ins richtige Licht zu setzen. Ein attraktives Erscheinungsbild und ein positives Image sind wesentliche Erfolgsbausteine ...

Nicht nur Menschen, die im Blickpunkt stehen und dadurch Blicken standhalten müssen, lernen ihre Wirkung zu ihrem Nutzen richtig zu beeinflussen. Die Fitnesswelle und damit auch das verstärkte Körperbewußtsein tragen zu dieser Tendenz bei ...

Mit Hilfe dieses Buches kann es Ihnen gelingen, Türen für sich zu öffnen, die bis jetzt noch geschlossen waren, die Erfolgsleiter mit schnelleren Schritten hochzuklettern als Ihre Mitbewerber. Es macht es einfacher, sich selbst gut zu verkaufen.“ (ZICKENDRAHT 1993, 9f.)

Auch wenn die Autorin nicht zu betonen aufhört, die Individualität der Ratsuchenden würde durch ihre Empfehlung nicht angetastet, so normieren ihre Ratschläge, die sich alle auf das äußere Erscheinungsbild von den Haaren, der Figur, den Brillen, dem Reisegepäck über den Sprachgebrauch, die Krawatte bis hin zur bewußten Steuerung des Selbstbewußtseins beziehen, noch bis in die richtige Farbwahl, die richtige Hautpflege und die richtigen Kunstgerüche.

Angebote dieser Sorte sind Teil eines Marktes, der normierte Identitäten und normierte Problemlösungen anbietet. Frau ZICKENDRAHT sowie ihre Kolleginnen und Kollegen haben dann Konjunktur, wenn die Individuen glauben, der von ihnen verlangte Einsatz müsse deshalb so hoch sein, weil auch die Gewinnerwartung sehr hoch sei. Auf dem Spiel stehen die ersehnten Gewinne bei den wichtigsten Steuerungsmedien unserer Gesellschaft: Geld, Macht und mittlerweile auch öffentliche Aufmerksamkeit. Frau ZICKENDRAHT hat aber auch dann Konjunktur, wenn die Individuen unsicher werden, welche der Handlungsmöglichkeiten, die zur Verfügung stehen, denn die richtige, die angemessene sei. Und dies scheint ein Zeichen unserer Zeit zu sein, daß den Individuen die kopierfähigen Handlungsroutinen abhanden kommen.

Abnehmende Orientierungsverbindlichkeiten, erodierende sozialintegrative Traditionskontexte auf der einen Seite, auf der anderen eine immense Steigerung von Handlungsmöglichkeiten in allen Lebensbereichen. In einer solchen Zeit, in der uns vor nicht allzu langer Zeit allabendlich Toyota aus dem Fernsehen über einen Affenchor verkünden ließ „Nichts ist unmöglich“, in einer solchen Zeit der Unübersichtlichkeit, steigt auch der Bedarf an Steuerungs- und Normalisierungshilfen. So reiht sich die Eliteberaterin ZICKENDRAHT ein in ein immenses Angebot von Ratgeberliteratur, die für alle Lebensbereiche sichere Entscheidungshilfe versprechen. Normalisierung aus dem Bücherregal. 1987 hat KOCH-LINDE (1988, 333) bereits 10.000 Titel dieses Genres gezählt. Weniger sind es bis heute sicher nicht geworden. Vor allem die Taschenbuchhersteller überbieten sich Monat für Monat mit immer neuen Produkten. An alle Gruppen, die Orientierungshilfe benötigen könnten, ist gedacht: an Frauen, Schüler, Senioren, Geldanleger, Börsenspekulanten oder an jene, die Angst haben, zukünftig ihren Job, ihr Gedächtnis, ihre Manneskraft oder ihre Schönheit zu verlieren. Jene, denen die normalen Lösungswege der universitär ausgebildeten Experten zu riskant geworden sind, erhalten Entscheidungshilfe z.B. auf den Gebieten des Übergewichts, der Rohkost, der Allergien, der Enzyme und Vitamine, der Wirbelsäulengymnastik, der Aroma-, der Reflexzonen- und der Farbtherapie.

Aus allen diesen Ratgebern gewinnen die eigenen Normalisierungsanstrengungen dadurch Hilfestellung, daß ihnen die Rückgabe souveräner Handlungsfähigkeit suggeriert wird. Dies gelingt dadurch, daß die Ratgeber die komplexer gewordene Welt auf die Übersichtlichkeit ihrer Lösungsversprechungen reduzieren. Sie wird wieder bewältigbar, bzw. sie stellt keine Bedrohung mehr dar. Dort, wo Routine abhanden gekommen schien, kann sie wieder greifen. Undurchsichtiges erscheint wieder durchsichtig, Vieldeutiges eindeutig, Unkontrolliertes kontrollierbar.

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