Die Kinder – ihre Handlungen

Zunächst möchte ich in wenigen Worten beschreiben, wie sich die Arbeit entwickelt hatte. Über die Volkshochschule, später über Schulen und Kindergärten kamen wir (Eckert/Fichtner) mit Kindern zusammen, bei denen von verschiedenen Seiten (Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Ärzte) Entwicklungsauffälligkeiten diagnostiziert wurden. Arbeiteten wir zunächst klassisch psychomotorisch, unter Einbeziehung körpertherapeutischer Aspekte, veränderte sich die Arbeit durch meine alleinige Leitung der Gruppen und durch „andere“ Kinder in einer Weise, die plötzlich neue Perspektiven einer Entwicklungsbegleitung eröffnete, ja sogar forderte. Zur Zeit arbeite (spiele) ich mit 4 – 6 Kindern, im Alter von 4 – ca. 7/8 Jahren, Junge zu Mädchen wie 3:1, einmal wöchentlich etwa 45 Minuten in der Turnhalle einer Schule. Die Kinder sind in der Regel bis zu 2 Jahre mit mir, je nachdem wie lange der Ablösungsprozess braucht. Während wir früher noch auf die Teilnahme der Eltern bestanden hatten, sind heute Eltern – meist sind es die Mütter -  nur noch dann dabei, wenn ihr Kind sich anfänglich noch nicht trennen kann. Warum dies so ist kann ich an dieser Stelle nichts ausführlicher entfalten. Nur so viel möchte ich anmerken, daß ich aus gutem Grund (Wir wohnen in dieser kleinen Stadt, in der die Gruppen stattfinden, und treffen die Eltern auch im Alltag) nicht in die Familiensysteme einsteigen möchte, unabhängig davon, was ich von diesem System erkenne. Die einzige Form der Elternarbeit besteht darin, daß ich bei gelegentlichen Treffen mit Eltern und Kindern zum Betrachten von Filmaufnahmen aus den Stunden, durch das Beschreiben vieler kleiner Lernerfolge bei einzelnen Kindern, deren Eltern indirekt auf andere, d.h. nicht wertende oder vergleichende Zugänge zu ihren Kindern hinweise. Wie bei den Kindern, so gilt auch in Beziehung zu Eltern der Grundsatz einer annehmenden, nicht wertenden Seinsweise und die Methode des Erkennen-Lassens von dem, was sich entwickelt und entfaltet und nicht dem Bewerten des Unvollständigen.

Das Beispiel des 5jährigen A. soll dies verdeutlichen:

Er kam zur ersten Stunde mit der Mutter: ein zurückhaltendes, fast ängstliches Kind, nahm keinen Blickkontakt mit mir auf, hing noch an der Mutter. „Er habe so feinmotorische Schwierigkeiten, schreibe nicht gerne im Kindergarten und sei überhaupt ungeschickt mit den Händen“. (Es ist fast normal, daß Mütter und auch Väter vor ihren Kindern über sie zu anderen sprechen, noch dazu über ihre Schwächen). A. reagierte nicht, hatte mittlerweile Kontakt mit der Kindergruppe aufgenommen, von denen er zwei aus dem Kindergarten kennt. Sie spielten gerade ein Fangspiel; er hatte eine Hinbewegung zum Mitmachen, traute sich noch nicht. Die Mutter ging dann, A. löste sich und spielte innerlich mit. Danach saßen wir auf Flauschis im Kreis und sagten unsere Namen, malten etwas von uns auf ein Blatt. A. wollte erst nicht, drehte sich dann weg, bedeckte dann seine Schreibhand. Er wollte das Ergebnis nicht zeigen. Nach der Stunde, in der er vorwiegend ein Baby-Polizeihund war, der viel getragen und gefahren wurde, schenkte er mir sein Blatt. Es war der Anfangsbuchstabe seines Namens mit einer wunderschönen Sonne. Er schaute mich an, sprach aber nicht. A. ist jetzt nach über einem Jahr sehr regelmäßiger Teilnahme eine wichtige Stütze in den szenischen Inszenierungen der Kinder. Über die Rollen als Polizeihund, Oberwachtmeister Dimpfelmoser, Soldat, Monster und Diener der Kaiserin Sissi erarbeitete er sich langsam mehr Kontakt zu sich und seinen Bedürfnissen. Er spricht und kommuniziert, ist sehr kreativ was Spielideen betrifft und ist ein aktives und verantwortliches Mitglied der kleinen Gruppe. In dieser Zeit hat er, bedingt durch die anfallenden problemorientierten Lösungen gelernt, verschiedene Knoten zu knüpfen und entknüpfen, offen und kreativ zu malen und schreiben, unterschiedlichste Fahrzeuge zu konstruieren, Rollbrett und Pedalo-Fahren zu lernen; er springt von der Sprossenwand aus mittlerer Höhe, überklettert eine schwingende Sprossenwand , um mit einem Schwungtuch das „Dach“ für das Gefängnis zu befestigen. Seine Selbständigkeit hat sich auch auf die Mutter übertragen, sie kann jetzt gut beobachten, was er alles gelernt hat und was er vor allem an sozialen Fähigkeiten im Umgang mit anderen Kindern erworben hat und auch anwendet. Er beschäftigt sich schon zu Hause mit der anstehenden Stunde, indem er sich immer wieder rückversichert, ob sie auch stattfindet und plant dann seinen Rollen-Einsatz beim nächsten Spiel. “Gerd, i wär hait dr Soldat“, ist aber flexibel genug, sich auf veränderte Rollensituationen einzustellen. Er freut sich jetzt schon auf die Schule und will wissen, ob er als Schulkind noch kommen darf.

A. hat in diesem Setting seinen Platz gefunden, weil in den Stunden niemand etwas von ihm wollte; er konnte jeden seiner Schritte selbst wählen. Es gab zwar immer wieder eine Konfrontation mit dem Thema „Risiko“, da der Raum schon sehr offen und unstrukturiert war, durch die Sicherheit ritualisierter Formen des Austausches und Ausdruckes mit mir wie Freundlichkeit, Humor und Körperkontakt öffnete er sich zunehmend. Die neuen feinmotorischen Fertigkeiten entwickelten sich langsam aber deutlich aus dem notwendigen Lösen von situativen Aufgaben, wie „Autos zusammenbinden“, „Gangster fesseln“ oder „Prinzessin befreien“; seine emotionalen Themen wie Angst und Unsicherheit bekamen einen Raum zum Da-Sein, aber auch zum Ausagieren, durch wilde Verfolgungs- und Weglaufspiele als Polizist und Soldat/Monster; sein Zuwendungsbedürfnis lebte er in verschiedenen Hunderollen aus , als Diener der Prinzessin und von Ali Feuerdrache, die entfalteten sprachlichen und interaktiven Kompetenzen in der Gruppe kamen durch diese zustande und wirkten auf sie zurück.

Nicht nur an diesem Beispiel wird ein grundlegendes Dilemma in der Betrachtung kindlicher Entwicklungsverläufe deutlich. Allen Veränderungen in der Erkenntnisgewinnung der letzten Jahre zum Trotz ist in den Köpfen von vielen Fachleuten/Wissenschaftlern, Therapeuten und auch Laien(Eltern) sehr häufig noch das Modell einer deterministischen, vergleichenden und auch rekonstruktiven (DORNES 1993) Betrachtungsweise kindlicher Entwicklungsverläufe und therapeutischer Interventionen vorherrschend. Konsens besteht offensichtlich darüber, wie ein Kind zu einer bestimmten Zeit zu sein habe. Diese Normen sind meist nicht hinterfragt, sondern eher tradiert und überholt, reflektieren selten ihre anthropologischen Prämissen und wissenschaftstheoretischen Paradigmen, sind linear-kausal und monologisch, vor allem aber sehr überdauernd und wertend. Jeder Ausbruch aus solchen Fügungen ist nicht ohne gründliche Reflexion aller Implikationen und Konsequenzen möglich. Der erste Schritt dazu ist m.E. das Erkennen, wie solche Erklärungsansätze und Seinsweisen wirken (SEEWALD 1993) und was sie mit den beteiligten Individuen machen. Geschieht dies gründlich und aufrichtig, folgt das Verstehen meist von selbst. Danach erst beginnt die Änderung, nicht umgekehrt. Änderung kann somit nicht beabsichtigt werden. Dies erfordert eine grundsätzliche Veränderung des Beziehungsgefüges. Da diese Umkehr bei dem Begleiter selbst beginnen muß und die Risiken einer solchen Umkehr, was Erfolg oder Misserfolg therapeutischer Handlungen betrifft, nicht kalkulierbar sind, wird verständlich, daß Veränderungen viel Zeit brauchen. Das oben angesprochene Dilemma läßt sich auflösen, wenn wir wieder zur ersten Natur des Menschen (LOWEN 1988) zurückkehren, zu seiner Lebendigkeit und der Verbundenheit mit seinem Körper. Dies geschieht durch die therapeutische Grundhaltung, daß wir das stärken wollen, was sich ausdehnen will und nicht dazu da sind, um die Probleme der Kinder zu lösen. Die Beschäftigung mit den „Problemen“ und „Defiziten“ der Kinder führt zur Kontraktion und zu erhöhter Spannung (REICH 1970) und damit zu sozialisierten und unnatürlichen Ausdrucks- und Verhaltensformen. Wenn Kinder aber wieder mit ihren Kreativ- und Selbstgestaltungskräften in Kontakt kommen, sind sie mit den beiden Potentialen verbunden, die phylo- und ontogenetisch als Motor der Entwicklung verstanden werden können. Dem wieder hergestellten Kontakt im Innern folgt der Kontakt zum Außen, der wichtigste Schritt aus der Kontraktion heraus ist geschehen: Das Kind ist wieder der „Akteur seiner Entwicklung“ (KAUTTER et al. 1988). Das Lernen wird dialogisch, die Kinder inszenieren zwar weiterhin ihre Themen, sind aber auch offen für Angebote von außen. Zum ersten Male kann dann ein Tausch stattfinden. Dies geschieht nicht nur auf der Ebene des individuellen Affektausdrucks, sondern auch auf der interaktiven Ebene von Planung , Durchführung  und Inhalt der Bewegungsstunde.(weitere Bemerkung 5)

Ein weiteres Beispiel aus der Praxis mag dies verdeutlichen:

B., ein knapp 6jähriger Junge wird von seiner Mutter in die Stunde gebracht und meist von ihr mit den Worten verabschiedet – „und schön folgen, du weißt“. Der Junge weiß es natürlich. In den ersten 3 – 5 Stunden brauchte er lange, um sich aus dieser Umklammerung zu lösen (weitere Bemerkung 6) – er schrie viel , war meist Polizist oder Soldat, sperrte alle Unfolgsamen ein – vor allem mich – und bestrafte sie im Gefängnis mit Folter oder Essensentzug und „Schlägen“. Erste Anzeichen eines Wandels waren darin zu sehen, daß er später die Mutter vor der Turnhalle abgab und mit mir schon im Umkleideraum die ersten Verhandlungen führte, ob er heute wieder Polizist sein dürfe. Dabei wies er darauf hin, daß er nicht mehr so streng sei. Pistole und Gewehr bräuchte er aber noch. Die nächsten 5 Sitzungen waren dadurch gekennzeichnet, daß er die Rolle des Polizisten ablegte und zum Hund bzw. Diener oder Soldat wurde, der je nach Rolle und Situation von mir entweder streng oder lieb behandelt wurde. Die „dunkle“ Seite von ihm kam manchmal blitzartig zum Vorschein, der „helle“ Teil überwiegte aber. Eine kleine Szene aus neuerer Zeit zeigt, daß irgendetwas in ihm diesen Prozess „verstanden“ hatte. Seine Mutter verabschiedete ihn wieder einmal mit obigen Worten, er nickte folgsam, drehte sich zu mir um, grinste mich verschwörerisch an und nickte mit dem Kopf. Ich lächelte ebenfalls und nickte zurück. Die weiteren Stunden waren von dem situativen Eintauchen und Wechseln in ganz unterschiedlichen Rollen gekennzeichnet. Seine größere Unabhängigkeit zeigte sich auch dadurch, daß er viele kreative Ideen einbrachte und selbständig mit den Kindern der Gruppe spielte, ohne sich häufig auf mich als Leiter zu beziehen. Er folgte jetzt seinen Impulsen, konnte aber auch  anderen – zumindest in der Gruppe – folgen. B. wirkt insgesamt zentrierter,  verantwortungsbewußter.

Noch aus einer anderen Sicht möchte ich die Veränderungen bei B. beschreiben, weil dieser Aspekt bei fast allen Kindern, früher oder später zu beobachten ist (weitere Bemerkung 7). Hinter diesem im Außen gut funktionierenden Kind, das oft sehr forsch und direkt auftrat, verbarg sich ein sehr ängstliches und verletztes Wesen, das viel an Rückversicherung für sein Handeln brauchte. Dies bekam er zunächst dadurch, daß ich ihn in allem bedingungslos unterstützte und keinerlei Aufmerksamkeit seinen „Problemen“ gab, deretwegen er zu mir geschickt worden war. Gleichzeitig mußte ich mich anfangs in meiner Wildheit und Direktheit im Spiel zurückhalten, da ihn dies verunsicherte. So konnte er auch damit nicht umgehen, daß wir immer wieder die Prinzessin fesselten und in das Gefängnis warfen. Allmählich fand er durch meinen Spiegel an Lust und Freude, den ich ihm immer wieder zeigte, einen Weg zu seiner irgendwann verlorenen Einheit zurück. Ich merkte dies als erstes daran, daß er sich immer länger von mir halten ließ und kreativer wurde im lustvollen gestischen, stimmlichen und körperlichen Ausdruck. Die Stunde wurde für ihn zu einem wichtigen Halt innerhalb seiner Lebenswelt. Die Mutter erzählte mir, daß er die Tage, Stunden zählte, bis er wieder zu mir durfte. In dem Maße, indem er sich seiner selbst (seines Selbst) wieder bewußter wurde, reaktiviert durch lustvolle motorische Handlungen, wurden die Hinwendungen zu mir und zu den anderen, incl. den Objekten, häufiger und direkter. Gleichzeitig konnte er mehr und mehr risikoreichere Handlungen zulassen, auf der Ebene äußerer Gefahren, aber auch hinsichtlich des eventuellen Verlusts an Zuneigung im Kontakt zu mir und zu den anderen. Er hatte einen Halt in sich gefunden. Nach AUCOUTURIER kann dieser Halt durch die „unite plaisir“, die lustvolle Dynamik in psychomotorischen Handlungen reaktiviert werden, wenn der Begleiter selbst diese Einheit in sich trägt und sie mit dem Kind lebt. Er sieht hier einen fundamentalen Reiz für die weitere kognitive Entwicklung, dies vor allem dann, wenn sich durch die Entfaltung sprachlicher Kompetenzen des Kindes sein Weg heraus aus dem nur Körperlichen beobachten läßt. (AUCOUTURIER 1989) Bei B. war dies durch die Veränderung in der Semantik deutlich abzulesen: Aus einem „darf ich heute wieder......?“ wurde ein „Ich möchte heute .....“. (weitere Bemerkung 8) Damit wurde der Schritt vollzogen von motorischen Aktionen zu  sozialen Interaktionen, zu Handlungen. Gleichzeitig bedeutete dies die Wiedererinnerung an unsere individualgenetische Aufgabe, verändernd und gestaltend auf die Außenwelt einzuwirken.

Was ich hier von B. berichten konnte, spielte sich so oder ähnlich bei allen Kindern ab. Das beste Mittel den Kindern zu helfen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden, war immer, „es sie vergessen zu lassen“ (AUCOUTURIER 1998,20) und „wir vergessen selbst die Probleme, wegen derer die Kinder zu uns geschickt wurden“ (AUCOUTURIER, a.a.O.)(weitere Bemerkung 9)

Die schon bestehende Gruppe, die meist ähnliche Erfahrungen erlebt hatte, wirkte auf die Neuen wie Ermunterung und Halt zugleich, es doch auch auszuprobieren und mitzuspielen. Für mich als Begleiter war dieser Schritt beeindruckend und irritierend zugleich. Beeindruckt hat mich die Entfaltung dieser Potentiale, die Kreativität im Gestalten und vor allem die Veränderung der Kinder in ihrer Körpersprache. Es hat sich immer wieder bestätigt, was LOWEN ausgedrückt hat: „Tätigkeiten, die dem Selbst-Ausdruck dienen, erzeugen ein unmittelbares Gefühl der Lust und Befriedigung“ (LOWEN 1988, 36). Irritiert war ich anfangs über die Konsequenz der Einforderung dieses neu gewonnenen Freiraums durch die Kinder. Ich fühlte mich manchmal an die (etwas abgewandelte) Redewendung erinnert: „Stell Dir vor, es ist Psychomotorik, und kein Kind ist da“. Oft saß ich als einsamer Ali Feuerdrache in der Halle und suchte meine Mitspieler, die auf irgendwelchen Schlössern und Burgen ihre Spiele spielten, mich nicht beachteten, aber insgeheim hofften, daß ich bald käme. Ich mußte also wieder in einer verstehenden Weise kindliche Welten erfahren und deren implizite Regeln lernen, nicht nur explizit Bedeutung und Sinn ihrer Handlung versuchen zu verstehen.

Ein letztes Beispiel soll diesen wichtigen Entwicklungsschritt lebendig werden lassen:

X ist eines der wenigen Mädchen in dieser Gruppe, 8;6 Jahre alt. Sie ist die Älteste an Jahren, eine der ersten Teilnehmerinnen und für mich und die Gruppe eine wichtige Stütze. Wenn sie nicht da ist, was selten vorkommt, fehlt uns allen etwas. Schon sehr früh übernahm sie eigeninitiativ die ewige Rolle der Prinzessin, galaktisch und erdnah, begehrt, bekämpft, umkämpft und beschützt. Sie war und ist die Kristallisationsfigur für die meisten Inszenierungen: Archetypisch treten Held/ Heldin und Dämon, Täter und Opfer, Krieger und Sklave, Herr und Diener auf die Bühne und spielen ihre Lebensthemen – ein ewiges Spiel. Alle psychomotorischen Fördermaterialien sind geliebte Zutaten, das Rezept wird von den Spielern ad hoc zusammengestellt. X hat für uns u.a. das Thema „Raum“ neu entdeckt. Ich habe bewußt keine räumlichen Begrenzungen oder Strukturierungen in der Turnhalle eingeführt. Alles war offen, vor allem die sonst so verschlossenen und verbotenen Geräteräume und die Toiletten. Diese Offenheit war Risiko und Chance. X hat dies kreativ genutzt. In der Halle war eine Bühne für Veranstaltungen, incl. geheimer Gänge, Verstecke, Vorhänge und Höhlen. Insbesondere war es dort zumeist dunkel. Als ich mich mit dieser neuen Entwicklung anfreunden konnte, erinnerte ich mich wieder an die Plätze meiner eigenen Kindheit, an die „ geheimen Welten der Kinder“ (LANGEVELD 1968,74) und ihre Bedeutung für das Selbst der Kinder. Ich verstand, daß sie ein Stück unverstandener Welt brauchten, eine „Freiheit für das Unbestimmte“ (LANGEVELD 1968,74), daß es essentiell war, ihnen diese „geheimen Stellen“ zuzugestehen, „ein Stück unbestimmter Welt“ (LANGEVELD 1968,100), in der sie nicht mehr funktionieren mußten. X. hat dies unerbittlich eingefordert, wir beide und die gesamte Gruppe sind daran gewachsen. Ich habe verstanden, auf welcher Ebene auch immer, daß es für sie wichtig war, diese Rolle in allen Facetten auszuleben. Anregungen dazu gibt es in unserer Soap-Medienwelt in Hülle und Fülle. Manchmal zeigte sie mir durch gesungene Lieder von TicTacToe, wie z.B „verpiss Dich, ich glaub ich vermiss Dich“ das ewige Spiel von Trennung und Verbindung. Sie ist mittlerweile zur Kaiserin mutiert, da ein zweites Mädchen, das bereitwillig die Prinzessinnenrolle übernahm, auf die Bühne getreten war. Ich warte neue Entwicklungen ab.

Verstanden habe ich zwei weitere wichtige Aspekte kindlicher Entwicklungsbegleitung. Wenn ich Kinder annehmen will, muß ich lernen, sie zu verstehen , d.h. ich muß mich um Sinnerschließung bemühen (SEEWALD 1992,210). Dies hat immer eine Veränderung der Beziehungsebenen zur Folge. „Achtsamkeit auf die Wünsche und Bedürfnisse der anderen zerstört Herrschaft und schafft Freundschaft“ (VERDEN-ZÖLLER 1994,91). Somit verträgt eine verstehende Entwicklungsbegleitung keine Hierarchien und Bewertungen, in gleicher Weise auch nicht monologische Handlungs- und Entscheidungsebenen oder Lernzielkataloge.

Letztlich verlangt diese Vorgehensweise das Aufgeben von Kontrolle, dies ist  – neben dem Aufgeben der Absicht des Ändern-Wollens -  die größte Herausforderung für alle professionellen Begleiter. Ohne ein in mir tief fundiertes Vertrauen in die Eigendynamik und Stimmigkeit kindlicher Entwicklungen wäre mir dieser Schritt schwer gefallen, bzw. unmöglich gewesen. Der erste Schritt lag auch hier bei mir; wenn ich in mir keinen Halt habe, nicht die Süße dieser Frei-Räume selbst erlebt habe, kann ich den Kindern diese Räume nicht eröffnen.

Der zweite wichtige Aspekt ist die Wiedererinnerung an die längst vergessenen Fähigkeiten, mit den Augen eines Kindes zu sehen. Welch geheimnisvolle Plätze gibt es im Leben eines Kindes, aus wie vielen magischen Fragmenten ist dessen Welt zusammengesetzt und welche Auswirkungen und Verbindungen hat dies mit dem Handeln des Kindes im Alltag?

Diese Welt kann ich nur entdecken, wenn ich wieder zum Kind werde und von anderen Kinder in deren Welten eingeladen werde. Dies war das Geschenk von X. Ihr Rückzug zum Schloß, mitsamt dem Hofstaat, war gleichzeitig die Aufforderung, sie dort abzuholen, sie zu befreien und immer wieder in die Alltagswelt hinauszuführen. So flog Ali Feuerdrache mit Polizisten und Soldaten zum Schloß, feierte Feste, und entführte die Prinzessin/Kaiserin, deren Schatz und ließ sie immer wieder entkommen. So kreierte Gerhard Fichtner für die Kinder „eine Welt, in der es gut war zu sein“. (LANGEVELD 1968,23). So erlebten die Kinder Räume, in denen sie sich durch ihr Spiel entfalten und natürlich auch entwickeln konnten , was immer auch das heißen mag. Das Schöpferische wurde für die Kinder existentiell wichtig. Mit Leichtigkeit tauchten sie in dieser Phantasiewelt unter und schöpften in gleicher Weise aus ihr. Oft fiel es ihnen nicht leicht, wieder aufzutauchen. Die zur Verfügung stehende Zeit wurde immer knapper, je kreativer die Kinder wurden. Wir haben es uns dennoch angewöhnt, beim Klingelzeichen aufzuhören und uns mit einem kleinen Entzauberungsritual wieder in den Alltag zu entlassen. Leider, gottseidank, waren meinen Heldinnen und Helden beim abschließenden Aufräumen wieder ganz normale Kinder.

...weiter im Text...

 

 

 

 

 















 

 

 

 

 

zu weitere Bemerkung 5
Nach Aucouturier ist „tauschen“ ein essentieller Bestandteil der Entwicklung des Kindes und wichtiger Zwischenschritt im Prozeß der Dezentrierung. Kinder können erst dann tauschen, wenn sie den Teil ausgelebt haben, der am stärksten sozialisiert wurde. So mußten auch meine Kinder lange die Rolle des Aggressors z.B. Wolf, Bösewicht, Monster etc. und omnipotente Gefühle der Macht mir gegenüber ausleben, ehe sie annehmen konnten, in die Rolle des Opfers zu schlüpfen.

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zu weitere Bemerkung 6
Wenn Eltern ihre Kinder lange festhalten – so konnte ich beobachten – haben diese größere Schwierigkeiten und brauchen länger, um in das Tausch-Thema einsteigen zu können.

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zu weitere Bemerkung 7
Es gibt aber auch immer wieder Kinder, die sich auf diese Prozesse nicht einlassen können/wollen oder dürfen. Oft sind die Auswirkungen der Öffnung bei den Kindern, wie z. B. größere Lebendigkeit, geringere Anpassung an und Durchbrechen von Normen für das Familiensystem so bedrohlich, daß die Kinder abgemeldet werden oder einfach nicht mehr erscheinen.

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zu weitere Bemerkung 8
Über einen anderen zentralen Aspekt meiner Arbeit kann ich an dieser Stelle nur kurz berichten: Als Lehrender im Fach Sprachbehindertenpädagogik beobachte ich in besonderer Weise die Veränderungen, die im Bereich sprachlicher Kompetenzen bei den Kindern eintreten, wenn sie sich in bewegungstherapeutisch orientierten Settings befinden. Sprachtherapeutisch arbeite ich vorwiegend mittels bewußtem Einsetzen von Modellierungstechniken (Dannenbauer 1984) und orientiere mich
dabei an seinem Ansatz der entwicklungsproximalen Sprachtherapie (Dannenbauer 1992).

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zu weitere Bemerkung 9
Hier verlasse ich seitherige lineare und instrumentalisierte Modelle aus Heil- und Sonderpädagogik, aber auch aus bestimmten Konzepten der Psychomotorik: Die Kette „Diagnose-Rezept-Behandlung“ muß aufgegeben werden zugunsten einer konsequenten Anpassung an kindliche Bedürfnisse und Fähigkeiten.

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