Die Kinder – ihre Handlungen Zunächst möchte
ich in wenigen Worten beschreiben, wie sich die Arbeit entwickelt hatte. Über
die Volkshochschule, später über Schulen und Kindergärten kamen wir
(Eckert/Fichtner) mit Kindern zusammen, bei denen von verschiedenen Seiten
(Eltern, Lehrer, Erzieherinnen, Ärzte) Entwicklungsauffälligkeiten
diagnostiziert wurden. Arbeiteten wir zunächst klassisch psychomotorisch,
unter Einbeziehung körpertherapeutischer Aspekte, veränderte sich die Arbeit
durch meine alleinige Leitung der Gruppen und durch „andere“ Kinder in
einer Weise, die plötzlich neue Perspektiven einer Entwicklungsbegleitung eröffnete,
ja sogar forderte. Zur Zeit arbeite (spiele) ich mit 4 – 6 Kindern, im Alter
von 4 – ca. 7/8 Jahren, Junge zu Mädchen wie 3:1, einmal wöchentlich etwa
45 Minuten in der Turnhalle einer Schule. Die Kinder sind in der Regel bis zu
2 Jahre mit mir, je nachdem wie lange der Ablösungsprozess braucht. Während
wir früher noch auf die Teilnahme der Eltern bestanden hatten, sind heute
Eltern – meist sind es die Mütter - nur
noch dann dabei, wenn ihr Kind sich anfänglich noch nicht trennen kann. Warum
dies so ist kann ich an dieser Stelle nichts ausführlicher entfalten. Nur so
viel möchte ich anmerken, daß ich aus gutem Grund (Wir wohnen in dieser
kleinen Stadt, in der die Gruppen stattfinden, und treffen die Eltern auch im
Alltag) nicht in die Familiensysteme einsteigen möchte, unabhängig davon,
was ich von diesem System erkenne. Die einzige Form der Elternarbeit besteht
darin, daß ich bei gelegentlichen Treffen mit Eltern und Kindern zum
Betrachten von Filmaufnahmen aus den Stunden, durch das Beschreiben vieler
kleiner Lernerfolge bei einzelnen Kindern, deren Eltern indirekt auf andere,
d.h. nicht wertende oder vergleichende Zugänge zu ihren Kindern hinweise. Wie
bei den Kindern, so gilt auch in Beziehung zu Eltern der Grundsatz einer
annehmenden, nicht wertenden Seinsweise und die Methode des Erkennen-Lassens
von dem, was sich entwickelt und entfaltet und nicht dem Bewerten des Unvollständigen. Das Beispiel des 5jährigen A. soll dies verdeutlichen: Er kam zur ersten Stunde mit der Mutter: ein zurückhaltendes, fast ängstliches
Kind, nahm keinen Blickkontakt mit mir auf, hing noch an der Mutter. „Er
habe so feinmotorische Schwierigkeiten, schreibe nicht gerne im Kindergarten
und sei überhaupt ungeschickt mit den Händen“. (Es ist fast normal, daß Mütter
und auch Väter vor ihren Kindern über sie zu anderen sprechen, noch dazu über
ihre Schwächen). A. reagierte nicht, hatte mittlerweile Kontakt mit der
Kindergruppe aufgenommen, von denen er zwei aus dem Kindergarten kennt. Sie
spielten gerade ein Fangspiel; er hatte eine Hinbewegung zum Mitmachen, traute
sich noch nicht. Die Mutter ging dann, A. löste sich und spielte innerlich
mit. Danach saßen wir auf Flauschis im Kreis und sagten unsere Namen, malten
etwas von uns auf ein Blatt. A. wollte erst nicht, drehte sich dann weg,
bedeckte dann seine Schreibhand. Er wollte das Ergebnis nicht zeigen. Nach der
Stunde, in der er vorwiegend ein Baby-Polizeihund war, der viel getragen und
gefahren wurde, schenkte er mir sein Blatt. Es war der Anfangsbuchstabe seines
Namens mit einer wunderschönen Sonne. Er schaute mich an, sprach aber nicht.
A. ist jetzt nach über einem Jahr sehr regelmäßiger Teilnahme eine wichtige
Stütze in den szenischen Inszenierungen der Kinder. Über die Rollen als
Polizeihund, Oberwachtmeister Dimpfelmoser, Soldat, Monster und Diener der
Kaiserin Sissi erarbeitete er sich langsam mehr Kontakt zu sich und seinen Bedürfnissen.
Er spricht und kommuniziert, ist sehr kreativ was Spielideen betrifft und ist
ein aktives und verantwortliches Mitglied der kleinen Gruppe. In dieser Zeit
hat er, bedingt durch die anfallenden problemorientierten Lösungen gelernt,
verschiedene Knoten zu knüpfen und entknüpfen, offen und kreativ zu malen
und schreiben, unterschiedlichste Fahrzeuge zu konstruieren, Rollbrett und
Pedalo-Fahren zu lernen; er springt von der Sprossenwand aus mittlerer Höhe,
überklettert eine schwingende Sprossenwand , um mit einem Schwungtuch das
„Dach“ für das Gefängnis zu befestigen. Seine Selbständigkeit hat sich
auch auf die Mutter übertragen, sie kann jetzt gut beobachten, was er alles
gelernt hat und was er vor allem an sozialen Fähigkeiten im Umgang mit
anderen Kindern erworben hat und auch anwendet. Er beschäftigt sich schon zu
Hause mit der anstehenden Stunde, indem er sich immer wieder rückversichert,
ob sie auch stattfindet und plant dann seinen Rollen-Einsatz beim nächsten
Spiel. “Gerd, i wär hait dr Soldat“, ist aber flexibel genug, sich auf
veränderte Rollensituationen einzustellen. Er freut sich jetzt schon auf die
Schule und will wissen, ob er als Schulkind noch kommen darf. A. hat in
diesem Setting seinen Platz gefunden, weil in den Stunden niemand etwas von
ihm wollte; er konnte jeden seiner Schritte selbst wählen. Es gab zwar immer
wieder eine Konfrontation mit dem Thema „Risiko“, da der Raum schon sehr
offen und unstrukturiert war, durch die Sicherheit ritualisierter Formen des
Austausches und Ausdruckes mit mir wie Freundlichkeit, Humor und Körperkontakt
öffnete er sich zunehmend. Die neuen feinmotorischen Fertigkeiten
entwickelten sich langsam aber deutlich aus dem notwendigen Lösen von
situativen Aufgaben, wie „Autos zusammenbinden“, „Gangster fesseln“
oder „Prinzessin befreien“; seine emotionalen Themen wie Angst und
Unsicherheit bekamen einen Raum zum Da-Sein, aber auch zum Ausagieren, durch
wilde Verfolgungs- und Weglaufspiele als Polizist und Soldat/Monster; sein
Zuwendungsbedürfnis lebte er in verschiedenen Hunderollen aus , als Diener
der Prinzessin und von Ali Feuerdrache, die entfalteten sprachlichen und
interaktiven Kompetenzen in der Gruppe kamen durch diese zustande und wirkten
auf sie zurück. Nicht nur
an diesem Beispiel wird ein grundlegendes Dilemma in der Betrachtung
kindlicher Entwicklungsverläufe deutlich. Allen Veränderungen in der
Erkenntnisgewinnung der letzten Jahre zum Trotz ist in den Köpfen von vielen
Fachleuten/Wissenschaftlern, Therapeuten und auch Laien(Eltern) sehr häufig
noch das Modell einer deterministischen, vergleichenden und auch
rekonstruktiven (DORNES 1993) Betrachtungsweise kindlicher Entwicklungsverläufe
und therapeutischer Interventionen vorherrschend. Konsens besteht
offensichtlich darüber, wie ein Kind zu einer bestimmten Zeit zu sein habe.
Diese Normen sind meist nicht hinterfragt, sondern eher tradiert und überholt,
reflektieren selten ihre anthropologischen Prämissen und
wissenschaftstheoretischen Paradigmen, sind linear-kausal und monologisch, vor
allem aber sehr überdauernd und wertend. Jeder Ausbruch aus solchen Fügungen
ist nicht ohne gründliche Reflexion aller Implikationen und Konsequenzen möglich.
Der erste Schritt dazu ist m.E. das Erkennen, wie solche Erklärungsansätze
und Seinsweisen wirken (SEEWALD 1993) und was sie mit den beteiligten
Individuen machen. Geschieht dies gründlich und aufrichtig, folgt das
Verstehen meist von selbst. Danach erst beginnt die Änderung, nicht
umgekehrt. Änderung kann somit nicht beabsichtigt werden. Dies erfordert eine
grundsätzliche Veränderung des Beziehungsgefüges. Da diese Umkehr bei dem
Begleiter selbst beginnen muß und die Risiken einer solchen Umkehr, was
Erfolg oder Misserfolg therapeutischer Handlungen betrifft, nicht kalkulierbar
sind, wird verständlich, daß Veränderungen viel Zeit brauchen. Das oben
angesprochene Dilemma läßt sich auflösen, wenn wir wieder zur ersten Natur
des Menschen (LOWEN 1988) zurückkehren, zu seiner Lebendigkeit und der
Verbundenheit mit seinem Körper. Dies geschieht durch die therapeutische
Grundhaltung, daß wir das stärken wollen, was sich ausdehnen will und nicht
dazu da sind, um die Probleme der Kinder zu lösen. Die Beschäftigung mit den
„Problemen“ und „Defiziten“ der Kinder führt zur Kontraktion und zu
erhöhter Spannung (REICH 1970) und damit zu sozialisierten und unnatürlichen
Ausdrucks- und Verhaltensformen. Wenn Kinder aber wieder mit ihren Kreativ-
und Selbstgestaltungskräften in Kontakt kommen, sind sie mit den beiden
Potentialen verbunden, die phylo- und ontogenetisch als Motor der Entwicklung
verstanden werden können. Dem wieder hergestellten Kontakt im Innern folgt
der Kontakt zum Außen, der wichtigste Schritt aus der Kontraktion heraus ist
geschehen: Das Kind ist wieder der „Akteur seiner Entwicklung“ (KAUTTER et
al. 1988). Das Lernen wird dialogisch, die Kinder inszenieren zwar weiterhin
ihre Themen, sind aber auch offen für Angebote von außen. Zum ersten Male
kann dann ein Tausch stattfinden. Dies geschieht nicht nur auf der Ebene des
individuellen Affektausdrucks, sondern auch auf der interaktiven Ebene von
Planung , Durchführung und
Inhalt der Bewegungsstunde.(weitere Bemerkung
5) Ein weiteres Beispiel aus der Praxis mag dies verdeutlichen: B., ein knapp 6jähriger Junge wird von seiner Mutter in die Stunde
gebracht und meist von ihr mit den Worten verabschiedet – „und schön
folgen, du weißt“. Der Junge weiß es natürlich. In den ersten 3 – 5
Stunden brauchte er lange, um sich aus dieser Umklammerung zu lösen (weitere Bemerkung 6) –
er schrie viel , war meist Polizist oder Soldat, sperrte alle Unfolgsamen ein
– vor allem mich – und bestrafte sie im Gefängnis mit Folter oder
Essensentzug und „Schlägen“. Erste Anzeichen eines Wandels waren darin zu
sehen, daß er später die Mutter vor der Turnhalle abgab und mit mir schon im
Umkleideraum die ersten Verhandlungen führte, ob er heute wieder Polizist
sein dürfe. Dabei wies er darauf hin, daß er nicht mehr so streng sei.
Pistole und Gewehr bräuchte er aber noch. Die nächsten 5 Sitzungen waren
dadurch gekennzeichnet, daß er die Rolle des Polizisten ablegte und zum Hund
bzw. Diener oder Soldat wurde, der je nach Rolle und Situation von mir
entweder streng oder lieb behandelt wurde. Die „dunkle“ Seite von ihm kam
manchmal blitzartig zum Vorschein, der „helle“ Teil überwiegte aber. Eine
kleine Szene aus neuerer Zeit zeigt, daß irgendetwas in ihm diesen Prozess
„verstanden“ hatte. Seine Mutter verabschiedete ihn wieder einmal mit
obigen Worten, er nickte folgsam, drehte sich zu mir um, grinste mich verschwörerisch
an und nickte mit dem Kopf. Ich lächelte ebenfalls und nickte zurück. Die
weiteren Stunden waren von dem situativen Eintauchen und Wechseln in ganz
unterschiedlichen Rollen gekennzeichnet. Seine größere Unabhängigkeit
zeigte sich auch dadurch, daß er viele kreative Ideen einbrachte und selbständig
mit den Kindern der Gruppe spielte, ohne sich häufig auf mich als Leiter zu
beziehen. Er folgte jetzt seinen Impulsen, konnte aber auch
anderen – zumindest in der Gruppe – folgen. B. wirkt insgesamt
zentrierter, verantwortungsbewußter. Noch aus
einer anderen Sicht möchte ich die Veränderungen bei B. beschreiben, weil
dieser Aspekt bei fast allen Kindern, früher oder später zu beobachten ist (weitere Bemerkung
7). Hinter diesem im Außen gut funktionierenden Kind, das oft sehr forsch
und direkt auftrat, verbarg sich ein sehr ängstliches und verletztes Wesen,
das viel an Rückversicherung für sein Handeln brauchte. Dies bekam er zunächst
dadurch, daß ich ihn in allem bedingungslos unterstützte und keinerlei
Aufmerksamkeit seinen „Problemen“ gab, deretwegen er zu mir geschickt
worden war. Gleichzeitig mußte ich mich anfangs in meiner Wildheit und
Direktheit im Spiel zurückhalten, da ihn dies verunsicherte. So konnte er
auch damit nicht umgehen, daß wir immer wieder die Prinzessin fesselten und
in das Gefängnis warfen. Allmählich fand er durch meinen Spiegel an Lust und
Freude, den ich ihm immer wieder zeigte, einen Weg zu seiner irgendwann
verlorenen Einheit zurück. Ich merkte dies als erstes daran, daß er sich
immer länger von mir halten ließ und kreativer wurde im lustvollen
gestischen, stimmlichen und körperlichen Ausdruck. Die Stunde wurde für ihn
zu einem wichtigen Halt innerhalb seiner Lebenswelt. Die Mutter erzählte mir,
daß er die Tage, Stunden zählte, bis er wieder zu mir durfte. In dem Maße,
indem er sich seiner selbst (seines Selbst) wieder bewußter wurde,
reaktiviert durch lustvolle motorische Handlungen, wurden die Hinwendungen zu
mir und zu den anderen, incl. den Objekten, häufiger und direkter.
Gleichzeitig konnte er mehr und mehr risikoreichere Handlungen zulassen, auf
der Ebene äußerer Gefahren, aber auch hinsichtlich des eventuellen Verlusts
an Zuneigung im Kontakt zu mir und zu den anderen. Er hatte einen Halt in sich
gefunden. Nach AUCOUTURIER kann dieser Halt durch die „unite plaisir“, die
lustvolle Dynamik in psychomotorischen Handlungen reaktiviert werden, wenn der
Begleiter selbst diese Einheit in sich trägt und sie mit dem Kind lebt. Er
sieht hier einen fundamentalen Reiz für die weitere kognitive Entwicklung,
dies vor allem dann, wenn sich durch die Entfaltung sprachlicher Kompetenzen
des Kindes sein Weg heraus aus dem nur Körperlichen beobachten läßt. (AUCOUTURIER
1989) Bei B. war dies durch die Veränderung in der Semantik deutlich
abzulesen: Aus einem „darf ich heute wieder......?“ wurde ein „Ich möchte
heute .....“. (weitere Bemerkung 8) Damit wurde der Schritt vollzogen von motorischen Aktionen
zu sozialen Interaktionen, zu
Handlungen. Gleichzeitig bedeutete dies die Wiedererinnerung an unsere
individualgenetische Aufgabe, verändernd und gestaltend auf die Außenwelt
einzuwirken. Was ich
hier von B. berichten konnte, spielte sich so oder ähnlich bei allen Kindern
ab. Das beste Mittel den Kindern zu helfen, ihre Schwierigkeiten zu überwinden,
war immer, „es sie vergessen zu lassen“ (AUCOUTURIER 1998,20) und „wir
vergessen selbst die Probleme, wegen derer die Kinder zu uns geschickt
wurden“ (AUCOUTURIER, a.a.O.)(weitere Bemerkung
9) Die schon
bestehende Gruppe, die meist ähnliche Erfahrungen erlebt hatte, wirkte auf
die Neuen wie Ermunterung und Halt zugleich, es doch auch auszuprobieren und
mitzuspielen. Für mich als Begleiter war dieser Schritt beeindruckend und
irritierend zugleich. Beeindruckt hat mich die Entfaltung dieser Potentiale,
die Kreativität im Gestalten und vor allem die Veränderung der Kinder in
ihrer Körpersprache. Es hat sich immer wieder bestätigt, was LOWEN ausgedrückt
hat: „Tätigkeiten, die dem Selbst-Ausdruck dienen, erzeugen ein
unmittelbares Gefühl der Lust und Befriedigung“ (LOWEN 1988, 36). Irritiert
war ich anfangs über die Konsequenz der Einforderung dieses neu gewonnenen
Freiraums durch die Kinder. Ich fühlte mich manchmal an die (etwas
abgewandelte) Redewendung erinnert: „Stell Dir vor, es ist Psychomotorik,
und kein Kind ist da“. Oft saß ich als einsamer Ali Feuerdrache in der
Halle und suchte meine Mitspieler, die auf irgendwelchen Schlössern und
Burgen ihre Spiele spielten, mich nicht beachteten, aber insgeheim hofften, daß
ich bald käme. Ich mußte also wieder in einer verstehenden Weise kindliche
Welten erfahren und deren implizite Regeln lernen, nicht nur explizit
Bedeutung und Sinn ihrer Handlung versuchen zu verstehen. Ein letztes Beispiel soll diesen wichtigen Entwicklungsschritt lebendig werden lassen: X ist eines der wenigen Mädchen in dieser Gruppe, 8;6 Jahre alt. Sie
ist die Älteste an Jahren, eine der ersten Teilnehmerinnen und für mich und
die Gruppe eine wichtige Stütze. Wenn sie nicht da ist, was selten vorkommt,
fehlt uns allen etwas. Schon sehr früh übernahm sie eigeninitiativ die ewige
Rolle der Prinzessin, galaktisch und erdnah, begehrt, bekämpft, umkämpft und
beschützt. Sie war und ist die Kristallisationsfigur für die meisten
Inszenierungen: Archetypisch treten Held/ Heldin und Dämon, Täter und Opfer,
Krieger und Sklave, Herr und Diener auf die Bühne und spielen ihre
Lebensthemen – ein ewiges Spiel. Alle psychomotorischen Fördermaterialien
sind geliebte Zutaten, das Rezept wird von den Spielern ad hoc
zusammengestellt. X hat für uns u.a. das Thema „Raum“ neu entdeckt. Ich
habe bewußt keine räumlichen Begrenzungen oder Strukturierungen in der
Turnhalle eingeführt. Alles war offen, vor allem die sonst so verschlossenen
und verbotenen Geräteräume und die Toiletten. Diese Offenheit war Risiko und
Chance. X hat dies kreativ genutzt. In der Halle war eine Bühne für
Veranstaltungen, incl. geheimer Gänge, Verstecke, Vorhänge und Höhlen.
Insbesondere war es dort zumeist dunkel. Als ich mich mit dieser neuen
Entwicklung anfreunden konnte, erinnerte ich mich wieder an die Plätze meiner
eigenen Kindheit, an die „ geheimen Welten der Kinder“ (LANGEVELD 1968,74)
und ihre Bedeutung für das Selbst der Kinder. Ich verstand, daß sie ein Stück
unverstandener Welt brauchten, eine „Freiheit für das Unbestimmte“ (LANGEVELD
1968,74), daß es essentiell war, ihnen diese „geheimen Stellen“
zuzugestehen, „ein Stück unbestimmter Welt“ (LANGEVELD 1968,100), in der
sie nicht mehr funktionieren mußten. X. hat dies unerbittlich eingefordert,
wir beide und die gesamte Gruppe sind daran gewachsen. Ich habe verstanden,
auf welcher Ebene auch immer, daß es für sie wichtig war, diese Rolle in
allen Facetten auszuleben. Anregungen dazu gibt es in unserer Soap-Medienwelt
in Hülle und Fülle. Manchmal zeigte sie mir durch gesungene Lieder von
TicTacToe, wie z.B „verpiss Dich, ich glaub ich vermiss Dich“ das ewige
Spiel von Trennung und Verbindung. Sie ist mittlerweile zur Kaiserin mutiert,
da ein zweites Mädchen, das bereitwillig die Prinzessinnenrolle übernahm,
auf die Bühne getreten war. Ich warte neue Entwicklungen ab. Verstanden
habe ich zwei weitere wichtige Aspekte kindlicher Entwicklungsbegleitung. Wenn
ich Kinder annehmen will, muß ich lernen, sie zu verstehen , d.h. ich muß
mich um Sinnerschließung bemühen (SEEWALD 1992,210). Dies hat immer eine Veränderung
der Beziehungsebenen zur Folge. „Achtsamkeit auf die Wünsche und Bedürfnisse
der anderen zerstört Herrschaft und schafft Freundschaft“ (VERDEN-ZÖLLER
1994,91). Somit verträgt eine verstehende Entwicklungsbegleitung keine
Hierarchien und Bewertungen, in gleicher Weise auch nicht monologische
Handlungs- und Entscheidungsebenen oder Lernzielkataloge. Letztlich
verlangt diese Vorgehensweise das Aufgeben von Kontrolle, dies ist – neben dem Aufgeben der Absicht des Ändern-Wollens -
die größte Herausforderung für alle professionellen Begleiter. Ohne
ein in mir tief fundiertes Vertrauen in die Eigendynamik und Stimmigkeit
kindlicher Entwicklungen wäre mir dieser Schritt schwer gefallen, bzw. unmöglich
gewesen. Der erste Schritt lag auch hier bei mir; wenn ich in mir keinen Halt
habe, nicht die Süße dieser Frei-Räume selbst erlebt habe, kann ich den
Kindern diese Räume nicht eröffnen. Der zweite
wichtige Aspekt ist die Wiedererinnerung an die längst vergessenen Fähigkeiten,
mit den Augen eines Kindes zu sehen. Welch geheimnisvolle Plätze gibt es im
Leben eines Kindes, aus wie vielen magischen Fragmenten ist dessen Welt
zusammengesetzt und welche Auswirkungen und Verbindungen hat dies mit dem
Handeln des Kindes im Alltag? Diese Welt kann ich nur entdecken, wenn ich wieder zum Kind werde und von anderen Kinder in deren Welten eingeladen werde. Dies war das Geschenk von X. Ihr Rückzug zum Schloß, mitsamt dem Hofstaat, war gleichzeitig die Aufforderung, sie dort abzuholen, sie zu befreien und immer wieder in die Alltagswelt hinauszuführen. So flog Ali Feuerdrache mit Polizisten und Soldaten zum Schloß, feierte Feste, und entführte die Prinzessin/Kaiserin, deren Schatz und ließ sie immer wieder entkommen. So kreierte Gerhard Fichtner für die Kinder „eine Welt, in der es gut war zu sein“. (LANGEVELD 1968,23). So erlebten die Kinder Räume, in denen sie sich durch ihr Spiel entfalten und natürlich auch entwickeln konnten , was immer auch das heißen mag. Das Schöpferische wurde für die Kinder existentiell wichtig. Mit Leichtigkeit tauchten sie in dieser Phantasiewelt unter und schöpften in gleicher Weise aus ihr. Oft fiel es ihnen nicht leicht, wieder aufzutauchen. Die zur Verfügung stehende Zeit wurde immer knapper, je kreativer die Kinder wurden. Wir haben es uns dennoch angewöhnt, beim Klingelzeichen aufzuhören und uns mit einem kleinen Entzauberungsritual wieder in den Alltag zu entlassen. Leider, gottseidank, waren meinen Heldinnen und Helden beim abschließenden Aufräumen wieder ganz normale Kinder. |
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