Wie gut sind Heranwachsende auf die Zukunft vorbereitet?

Die letzte ergiebige Fundgrube an Informationen zur Lebenssituation Heranwachsender in Deutschland hat die 13. Shell Jugendstudie geliefert. Dem besorgten kinder- und jugendschützerischen Blick haben sie weniger Bestätigung geliefert, als jener Sicht auf Jugend, die in dem Buchtitel "Kinder der Freiheit" zum Ausdruck kommt. Von einigen Problemgruppen abgesehen, scheint hier in der Generation der 15- bis 24-Jährigen eine Generation heranzuwachsen, die in der Welt des "flexiblen Kapitalismus" angekommen ist, ihn als Bedingung ihrer eigenen Lebensexistenz ansehen und sich in ihm mit einer realistischen Grundhaltung einrichten.

Es ist eine Generation, für die die "Bastelexistenz" oder die "Patchworkidentität" keine Schreckgespenster oder idealisierte Luftfiguren darstellen, sondern ihre Normalität. Dazu nur ein zusammenfassender Kommentar der 13. Shell Jugendstudie. Er unterstellt die Grunderfahrung von Heranwachsenden, dass ihre Verortung notwendigerweise vorläufig sei: "Jenseits des Kanons unteilbarer und für funktionierende Zusammenleben auch unabdingbarer menschlicher Grundrechte und Grundpflichten gibt es nichts Statisches. (...) Wenn Autoritäten schwinden und biografisch auf vieles kein Verlass mehr ist, wird man sich zunehmend in Reaktion auf die aktuellen Gegebenheiten orientieren, situationsgemäß und reagibel den eigenen Wertecocktail zusammenbasteln, ebenso wie man sich in Eigenregie seine Biografie zusammenbastelt" (2000, S. 155). "Festlegungen auf Zeit, das kompetente Managen der eigenen Biografie, das Aufspringen bei attraktiven bio-grafischen Mitfahrgelegenheiten - dies rückt an die Stelle von Langstrecken-Zugfahrten auf fremdvorgegebenen Lebenslauf-Gleisen, weil die Reiseziele andere geworden sind, weil sie sich plötzlich unterwegs verändern können und weil sie mit anderen Mitteln erreicht werden müssen. Jugendliche wachsen hinein in eine Erwachsenenwelt, in der biografisch improvisiert werden muss (und kann) wie nie zuvor. Sie wachsen hinein in eine Lebensweise, in welcher der Umgang mit den eigenen Lebenszielen, Partnerschaftsmodellen und Wohnvorstellungen zunehmend flexibel gehandhabt werden kann und muss. Sie können sich Starrheit nicht leisten" (ebd., S. 156).

Und dieses biografische Selbstmanagement hat einen qualitativ anderen Charakter als z.B. in der unmittelbaren Nachkriegssituation. Da hätte man - metaphorisch gesprochen - "handfeste Näharbeiten an den Mänteln" geleistet und hat sich damit arrangiert, weil die Gewissheit da gewesen wäre, dass es aufwärts gehen werde. Heute hätte die "Flickarbeit" eine "viel kompliziertere und abstraktere Form" angenommen, es sei eben "Patchwork an der eigenen Identität und am eigenen Lebenslauf" (S. 156). Diese Feststellungen werden nicht mit einem sorgenvollen Unterton vorgetragen. Es wird eher Diagnose transportiert, dass hier eine Generation die historische Bühne betritt, die den gesellschaftskritischen Bedenkenträgern zeigt, dass man sich in diesen neuen Flexibilität fordernden Lebensverhältnissen eingerichtet hat und damit - überwiegend - souverän umzugehen weiß. Also doch "Kinder der Freiheit". Für einen größeren Teil der in der Shellstudie befragten Jugendlichen gilt wohl diese Zuordnung. Sie blicken auf der Basis einer guten Schulausbildung eher optimistisch in die Zukunft. Immerhin aber 35% der westdeutschen und 42% der ostdeutschen Jugendlichen blickt eher düster in die erwartbare Zukunft. Und bemerkenswert finde ich, dass sich nur 21% gut auf zukünftige Entwicklungen vorbereitet fühlen.

Die PISA-Studie hat die Heranwachsenden bestätigt und ich möchte das in einigen zusammenhängenden Thesen aufzeigen und nachfolgend erläutern:

1. PISA hat gezeigt, dass Heranwachsende in Deutschland nicht besonders gut für die Anforderungen in einer Welt der Post-Postmoderne vorbereitet sind, in der sich die "Spaßgesellschaft" zunehmend als zugespitzte "Risikogesellschaft" er-weist. Defizitär ist das, was PISA in erster Linie erfassen wollte: "Basiskompetenzen, die in modernen Gesellschaften für eine befriedigende Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben notwendig sind" (Deutsches PISA-Konsortium 2001, S. 29).

2. Die durch PISA ausgelöste Panik in Deutschland hat sich bislang allerdings fast ausschließlich auf die nachgewiesenen Defizite im Bereich kognitiver Leistungen bezogen und noch nicht zu der breiten und ganzheitlichen Bildungsoffensive geführt. Zukunftschancen für Heranwachsende werden nämlich nicht nur durch "formelle Bildungsangebote" verteilt, sondern vor allem auch durch "informelle Bildung", die sich im Alltag von Familien, Nachbarschaft, Kultur, Freizeit und Jugendarbeit vollzieht. Die Verbesserung von Zukunftschancen ist deshalb auch nicht von einer Bildungspolitik zu erwarten, die sich an der Devi-se "mehr vom gleichen" ausrichtet: Einer "verschulten" Gesellschaft soll noch ein "verschulter" Kindergarten vorgeschaltet werden.

3. Daneben erfreut sich die "Mut zur Erziehungs"-Philosophie einer besonderen Konjunktur. Sie kommt in der Gestalt apokalyptischer Reiter mit journalistischen Pfeilen im Köcher: "Der Erziehungsnotstand. Wie wir die Zukunft unserer Kinder retten" (Petra Gerster & Christian Nürnberger 2001) oder "Die Erziehungskatastrophe. Kinder brauchen starke Eltern" (Susanne Gaschke 2001) sind aktuelle Bestsellertitel, die ihre eigene Ratlosigkeit mit dem hilflosen Rückgriff auf Rezepte der Ersten Moderne kaschieren.

4. Viele offenkundigen Probleme der in Deutschland aufwachsenden Kinder hängen mit Sozialisationsbedingungen in Familien, Kindergärten oder Schulen zusammen, die an Stelle von zukunftsfähigen Schlüsselqualifikationen an Zielen festhalten, die heute passé sind. Die zentralen Probleme von Heranwachsenden sind mit ungleichen Zugängen zu basalen Ressourcen verknüpft: Zugang zu materiellem Kapital reproduziert sich in symbolischem, kulturellem und sozialem Kapital.

5. Wir müssen uns von der Vorstellung der Ersten Moderne verabschieden, als könnten aus einem für alle verbindlichen Fahrplan biographische Langstrecken-Zugfahrten auf fremdvorgegebenen Lebenslauf-Gleisen abgelesen werden. Zukunftsfähige Schlüsselqualifikationen zur Lebensbewältigung im globalisierten digitalen Kapitalismus müssen Bildung als eigensinnigen Prozess begreifen, in dem die Selbstorganisationsfähigkeit des Subjektes optimal gefördert werden sollte, damit das Patchwork der eigenen Identität als selbstbestimmtkreatives Projekt gelingen kann.

6. Die Anzahl der Kinder und Jugendliche, die einen Migrationshintergrund haben steigt ständig. Viele von ihnen erweisen sich als Pioniere der Reflexiven Moderne: Sie erweisen sich als kreative Schöpfer von Lebenskonzepten, die die Ressourcen unterschiedlicher Kulturen integrieren. Sie bedürfen aber des gesicherten Vertrauens, dass sie zu dazu gehören und in ihren Identitätsprojekten anerkannt werden.

7. Damit Kinder und Jugendliche Selbstverantwortung für ihre eigene Biographie übernehmen können, bedarf es einer Politik des Empowerment, der allseitigen Förderung von Ressourcen der selbstbestimmten Lebensbewältigung.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz. Erwachsenwerden ist ein schwieriger werdendes Projekt. An welchen Modellen und Werten sollen sich Heranwachsende orientieren oder von welchen sich abgrenzen? Die Lebenswelten brechen um. Heranwachsen führt in eine Welt hinein, die zunehmend unlesbar geworden ist, für die unsere Erfahrungen und unsere Begriffe nicht ausreichen, um eine stimmige Interpretation oder eine verlässliche Prognose zu erreichen. Für diese Welt existiert kein Atlas, auf den Erwachsenen zurückgreifen könnten, um Heranwachsenden ihren möglichen Ort und den Weg dorthin erklären zu können. Das Leben in der Wissens-, Risiko-, Zivil-, Einwanderungs-, Erlebnis- und Netzwerkgesellschaft verdichtet sich zu einer verallgemeinerbaren Grunderfahrung der Subjekte in den fortgeschrittenen Industrieländern: In einer "ontologischen Bodenlosigkeit", einer radikalen Enttraditionalisierung, dem Verlust von unstrittig akzeptierten Lebenskonzepten, übernehmbaren Identitätsmustern und normativen Koordinaten. Subjekte erleben sich als Darsteller auf einer gesellschaftlichen Bühne, ohne dass ihnen fertige Drehbücher geliefert würden. Genau in dieser Grunderfahrung wird die Ambivalenz der aktuellen Lebensverhältnisse spürbar. Es klingt natürlich für Subjekte verheißungsvoll, wenn ihnen vermittelt wird, dass sie ihre Drehbücher selbst schreiben dürften, ein Stück eigenes Leben entwerfen, inszenieren und realisieren könnten. Die Voraussetzungen dafür, dass diese Chance auch realisiert werden können, sind allerdings bedeutend. Die erforderlichen materiellen, sozialen und psychischen Ressourcen sind oft nicht vorhanden und dann wird die gesellschaftliche Notwendigkeit und Norm der Selbstgestaltung zu einer schwer erträglichen Aufgabe, der man sich gerne entziehen möchte. Die Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, hat ohne Zugang zu der erforderlichen Ressourcen, etwas zynisches.

Wie könnte man die Aufgabenstellung für unsere alltägliche Identitätsarbeit formulieren? Hier meine thesenartige Antwort: Im Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung stehen die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes und authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn. Das alles findet natürlich in einem mehr oder weniger förderlichen soziokulturellem Rahmen statt, der aber die individuelle Konstruktion dieser inneren Ges-talt nie ganz abnehmen kann. Es gibt gesellschaftliche Phasen, in denen der individuellen Lebensführung die bis dato stabilen kulturellen Rahmungen abhanden kommen und sich keine neuen verlässlichen Bezugspunkte der individuellen Lebensbewältigung herausbilden. Gegenwärtig befinden wir uns in einer solchen Phase.

Meine These bezieht sich genau darauf:

Identitätsarbeit hat als Bedingung und als Ziel die Schaffung von Lebenskohärenz. In früheren gesellschaftlichen Epochen war die Bereitschaft zur Übernahme vorgefertigter Identitätspakete das zentrale Kriterium für Lebensbewältigung. Heute kommt es auf die individuelle Passungs- und Identitätsarbeit an, also auf die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zum "Selbsttätigwerden" oder zur "Selbsteinbettung". Das Gelingen dieser Identitätsarbeit bemisst sich für das Subjekt von Innen an dem Kriterium der Authentizität und von Außen am Kriterium der Anerkennung.



Identitätsarbeit hat eine innere und äußere Dimension. Eher nach außen gerichtet ist die Dimension der Passungsarbeit. Unumgänglich ist hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und von Anerkennung und Integration. Eher nach ,innen', auf das Subjekt, bezogen ist Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Verknüpfung der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühl von Authentizität und Sinnhaftigkeit.

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