Die Bedeutung des "Kohärenzsinns" für Lebenssouveränität

Lebenserfahrungen, in denen Subjekte sich als ihr Leben Gestaltende konstruieren können, in denen sie sich in ihren Identitätsentwürfen als aktive Produzenten ihrer Biographie begreifen können, sind offensichtlich wichtige Bedingungen der Gesunderhaltung. Der israelische Gesundheitsforscher Aaron Antonovsky hat diesen Gedanken in das Zentrum seines "salutogenetischen Modells" gestellt. Es stellt die Ressourcen in den Mittelpunkt der Analyse, die ein Subjekt mobilisieren kann, um mit belastenden, widrigen und widersprüchlichen Alltagserfahrungen produktiv umgehen zu können und nicht krank zu werden.

Was ist Salutogenese?
  • Das Konzept stammt von dem israelischen Gesundheitsforscher A. Antonovsky.
  • Das "salutogenetische" Denkmodell formuliert eine Alternative zu Pathogenese, also zur Entstehung von Krankheiten.
  • Gefragt ist nicht, was macht krank, sondern wie es Menschen schaffen, gesund zu bleiben, trotz unterschiedlicher gesundheitlicher Belastungen.
  • Von besonderer gesundheitsförderlicher Bedeutung sind die Widerstandsressourcen einer Person. Dazu zählen:
    - Körperliche Resistenzbedingungen
    - Psychische Ressourcen
    - Materielle Ressourcen
    - Psychosoziale Ressourcen
  • Von besonderer Relevanz ist der "Kohärenzsinn"

Dieses Modell geht von der Prämisse aus, dass Menschen ständig mit belastenden Lebenssituationen konfrontiert werden. Der Organismus reagiert auf Stressoren mit einem erhöhten Spannungszustand, der pathologische, neutrale oder gesunde Folgen haben kann, je nachdem, wie mit dieser Spannung umgegangen wird. Es gibt eine Reihe von allgemeinen Widerstandsfaktoren, die innerhalb einer spezifischen soziokulturellen Welt als Potential gegeben sind. Sie hängen von dem kulturellen, materiellen und sozialen Entwicklungsniveau einer konkreten Gesellschaft ab. Mit organismischkonstitutionellen Widerstandsquellen ist das körpereigene Immunsystem einer Person gemeint. Unter materiellen Widerstandsquellen ist der Zugang zu materiellen Ressourcen gemeint (Verfügbarkeit über Geld, Arbeit, Wohnung etc.). Kognitive Widerstandsquellen sind "symbolisches Kapital", also Intelligenz, Wissen und Bildung. Eine zentrale Widerstandsquelle bezeichnet die Ich-Identität, also eine emotionale Sicherheit in bezug auf die eigene Person. Die Ressourcen einer Person schließen als zentralen Bereich seine zwischenmenschlichen Beziehungen ein, also die Möglichkeit, sich von anderen Menschen soziale Unterstützung zu holen, sich sozial zugehörig und verortet zu fühlen.

Antonovsky zeigt auf, dass alle mobilisierbaren Ressourcen in ihrer Wirksamkeit letztlich von einer zentralen subjektiven Kompetenz abhängt: Dem "Gefühl von Kohärenz".

Kohärenzsinn:
Das Herzstück der Salutogenese

Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist.

Der Kohärenzsinn beschreibt eine geistige Haltung:

  • Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehensebene).
  • Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Bewältigungsebene).
  • Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinnebene)
  • Der Zustand der Demoralisierung bildet den Gegenpol zum Kohärenzsinn.

Antonovsky transformiert eine zentrale Überlegung aus dem Bereich der Sozialwissenschaften zu einer grundlegenden Bedingung für Gesundheit: Als Kohärenzsinn wird ein positives Bild der eigenen Handlungsfähigkeit verstanden, die von dem Gefühl der Bewältigbarkeit von externen und internen Lebensbedingungen, der Gewissheit der Selbststeuerungsfähigkeit und der Gestaltbarkeit der Lebensbedingungen getragen ist. Der Kohärenzsinn ist durch das Bestreben charakterisiert, den Lebensbedingungen einen subjektiven Sinn zu geben und sie mit den eigenen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang bringen zu können.

Gerade für Heranwachsende scheint der Kohärenzsinn von zentraler Bedeutung zu sein. Eine zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters ist die Entwicklung einer eigenständigen Identität. Identität stellt die Antwort auf die Frage dar: "Wer bin ich?" In einer solchen Antwort wird die eigene Person in einem soziokulturellen Rahmen verortet, in dem sie persönlichen Lebenssinn gewinnen kann. Umso weniger es gelingt, für sich Lebenssinn zu konstruieren, desto weniger besteht die Möglichkeit sich für oder gegen etwas zu engagieren und Ressourcen zur Realisierung spezifischer Ziele zu mobilisieren.

In unserer eigenen Untersuchung haben wir eindrucksvolle Befunde für die Bedeutung des Kohärenzsinns gefunden. Wir haben Antonovskys Messinstrument zur Messung des Kohärenzsinns eingesetzt und klar belegen können, dass Heranwachsende umso mehr psychosomatische Beschwerden berichten, je geringer ihre Werte für den Kohärenzsinn sind.

Wenn Menschen keine sinnhafte Ordnung in ihrem Leben finden oder entwickeln können, dann wirkt sich das in dem Phänomen der "Demoralisierung" aus. Dieses Muster beinhaltet Einstellungen und Grundhaltungen, die durch ein geringes Selbstwertgefühl, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, unbestimmte Zukunftsängste und allgemein gedrückter Grundstimmung geprägt sind. Für die USA liegen folgende Ergebnisse vor: Demoralisiert in dem beschriebenen Sinne wurde etwa ein Drittel der Bevölkerung eingeschätzt. Die Demoralisierungsrate von Frauen liegt um 10% höher als bei Männern. Etwa die Hälfte der Angehörigen der untersten sozialen Schicht erwies sich als demoralisiert. Etwa die Hälfte des Bevölkerungsanteils, der als demoralisiert eingeschätzt wurde, wies klinisch auffällige Symptome auf. Bei dieser Gruppe hatten die verfügbaren Ressourcen offensichtlich nicht ausgereicht, um mit Lebensproblemen und Krisen produktiv umgehen zu können. Das Demoralisierungssyndrom bringt zum Ausdruck, dass eine erheblicher Anteil der Bevölkerung für sich keinen Sinn mehr darin sieht, sich für oder gegen etwas einzusetzen. Diese Personen lassen Ereignisse fatalistisch auf sich zukommen und über sich hereinstürzen, weil sie nicht mehr daran glauben, dass sie wirksam etwas gegen diese unternehmen könnten.

Bei unserer Untersuchung zeigt sich deutlich die umgekehrte Relation zwischen Kohärenzgefühl und Demoralisierung: Je ausgeprägter das Demoralisierungsgefühl vorhanden ist, desto geringer ist das Kohärenzgefühl entwickelt.

Bei unserer Untersuchung zeigt sich deutlich die umgekehrte Relation zwischen Kohärenzgefühl und Demoralisierung: Je ausgeprägter das Demoralisierungsgefühl vorhanden ist, desto geringer ist das Kohärenzgefühl entwickelt.

Unsere quantitativen Befunde haben wir als Hinweisspuren genommen, denen wir in dem qualitativen Teil unseres Projektes weiter nachgegangen sind. Uns hat vor allem folgende Frage interessiert: Was kennzeichnet nun Jugendliche mit einem hohen bzw. niedrigen Kohärenzsinn genauer. Betrachtet man Gesundheit als aktiven Herstellungsprozess, dann interessiert vor allem ob und wie der Kohärenzsinn diesen Prozess beeinflusst. Dies soll im folgenden anhand von Material aus unseren qualitativen Interviews aufgezeigt werden.

Die drei Jugendlichen, die ich exemplarisch vorstellen werde, sind zwischen siebzehn und achtzehn Jahre alt. Allen gemeinsam ist, dass ihre Biographien einige Brüche aufweisen. Sie waren zur Zeit des Interviews stark mit den identitätsbezogenen Fragen "wer bin ich" und "wer möchte ich sein" beschäftigt, die auch starke Gefühle der Unsicherheit und Angst auslösten.

Kati lebt nach der Scheidung der Eltern im letzten Jahr bei der Mutter. Die Beziehung zu den Eltern ist eher gespannt, zur kühlen rationalen Mutter wie auch zum Vater, der als psychisch krank etikettiert wurde. Ihre beste Freundin hat sie durch den Umzug verloren, der mit der Scheidung verbunden war. Neue wirkliche Freunde hat sie keine gefunden.

Kati hat diffuse Ängste vor Situationen, die Enttäuschungen bzw. für sie negative Gefühle bedeuten könnten. Sie sagt, man kann sich nie sicher sein, dass man verletzt wird. Damit sie nicht krank wird, muss sie sich aber ihrer Vorstellung nach vor allen Belastungen schützen. Sie versucht dies zu tun, indem sie alle Situationen vermeidet, in denen sie verletzt werden könnte und sie wappnet sich gegen Enttäuschungen: Sie schraubt ihr Erwartung herunter und sie versteckt sich in sozialen Situationen: Sie sagt selten etwas, zeigt anderen wenig Gefühle, zieht sich ganz zurück. Gleichzeitig wächst ihre Selbstkritik, denn sie möchte nicht so sein, wie sie ist. Wenn sie schwierige Situationen nicht verhindern kann, wie die Scheidung ihrer Eltern, dann "hadert" sie, wie sie sagt, "mit dem Schicksal". Sie selbst sieht, dass ihre "Sicherheitsstrategie" dazu führt, dass sie dadurch auch weniger positive Erfahrungen macht, aber sie schafft es nicht, dieses Muster zu durchbrechen. Auch ihre jetzige Lebenssituation bietet dazu im Moment keine Möglichkeitsräume.

Alex lebt bei seiner Mutter. Die Beziehung zu ihr beschreibt er als eher schlecht. Sie ist sehr verschlossen, es gibt kein Lob und keine Streicheleinheiten. Der Vater, alkoholabhängig und gewalttätig, hat die Familie vor dreizehn Jahren verlassen. Er hat etliche Freunde aus zwei Szenen: Raver und die "Bronxgang", wie sie sich bezeichnen. Alex fühlt sich durch neue Situationen schnell verunsichert. Er kann sich, wie er sagt, nur schwer auf neue Situationen einstellen, die Erwartungen an ihn, die damit verbunden sind, zu antizipieren und auch danach zu handeln. Um sich sicher fühlen zu können sagt er, braucht er Situationen, die klar strukturiert sind, die Schule oder die Bundeswehr. Der Verlust seines Jobs hat ihn tief getroffen und seine Lebenslust, die wie er meint von Erfolgen abhängt, sehr reduziert. Er empfindet seinen Alltag als ziemlich sinnlos und langweilig. Er hat neue berufliche Perspektiven entwickelt, er will die Mittlere Reife bei der Bundeswehr nachmachen, zweifelt aber immer wieder daran, dass er es schafft. Auch seine Clique ändert wenig an seinen Selbstzweifeln. Hier versucht er durch die Anpassung an äußere Gruppennormen, die nicht seine eigenen sind, dazuzugehören. Er trägt die "geforderten" teuren Raserklamotten, er macht mit bei Schlägereien gegen andere Gangs, die ihm aber nichts bedeuten und er geht öfters als es ihm Spaß macht auf Raveparties, tanzt 72 Stunden durch und nimmt Drogen, damit er "in" ist und es auch bleibt. Metaphorisch drückt sich diese Sicherungsstrategie in seinem Körperbezug aus: Er macht Kampfsport, damit seine Muskeln alle Schläge (wohl auch die des Lebens) abwehren können, ihn unverwundbar machen.

Kevin war, wie er sagt, ein richtiges Muttersöhnchen. Er hatte kaum Freunde, er hatte Schulschwierigkeiten und litt unter Angst und psychosomatischen Beschwerden. Die Beziehung zu seiner Mutter ist eher negativ, er hofft, dass sie, wie angekündigt, bald auszieht. Die Beziehung zu seinem Vater ist von Vertrauen geprägt, auch wenn sie teilweise durch den zu hohen Alkoholkonsum des Vaters getrübt ist. Kevin hat auch heute noch Angst vor "unklaren Situationen bzw. Anforderungen". Eine solche stellt zur Zeit seine Rolle als Mann für ihn dar. Einerseits sieht er sich als der Starke, als Beschützer der Frau, andererseits spürt er auch seine eigenen Gefühle und Verletzlichkeiten. Im Unterschied zu Kati und teilweise auch zu Alex versucht Kevin aktive Lösungswege. Einer ist beispielsweise, dass er in einem Fantasyspiel, das er mit seinen Freunden seit einigen Monaten spielt, bewusst die Rolle einer Frau übernommen hat. Die Beziehung zwischen den Freunden ist durch diese Spielregeln festgelegt und erlaubt ihm im Sinne eines "Probehandelns" ohne "Risiko" neue Erfahrungen zuzulassen und auszuprobieren.

Auch die Beziehung zu seiner ersten Freundin hat ihn verunsichert, da es für das Zusammenleben keine allgemein geteilten Regeln mehr gibt. Seine Zwischenlösung war, dass sie nach dem keltischen Ritus "geheiratet" haben und sich damit Regeln für die Gestaltung ihrer Beziehung gestaltet haben. Typisch für Kevin ist auch, dass er den schulischen Abstieg vom Gymnasium in die Realschule eher positiv sieht. Er hat eine berufliche Perspektive entwickelt, zu der seine jetzige Schulform genau geeignet ist. Außerdem hat er dort in relativ kurzer Zeit auch Freunde und seine Freundin gefunden.

Die drei Beispiele zeigen Heranwachsende mit einem unterschiedlich hohen Kohärenzsinn.

Analysiert man nun die Alltagsstrategien dieser drei Adoleszenten unter den analytischen Kategorien, die Antonovsky für den Kohärenzsinn angenommen hat, so finden sich diese in den Fallgeschichten relativ genau wieder.

Auf die Fallgeschichten bezogen zeigen sich

1) auf der Sinnebene:
Kati und Alex finden in ihrer gegenwärtigen Lebenssituation eher wenig Sinn. Kati ist von dem, was sie tut, oft gelangweilt, ist damit unzufrieden und hat keine Wünsche, Träume in bezug auf ihre Zukunft, außer der Hoffnung, dass nach dem Schulabschluss eine geeignete Lösung kommt.

Alex hat sich zwar eine neue Perspektive erarbeitet, die er allerdings nicht alleine und bald verwirklichen kann. Er ist abhängig davon, ob die gewählte Perspektive auch von außen (von der Bundeswehr) ermöglicht wird. Seinen gegenwärtigen Alltag findet er stinklangweilig und sinnlos.

Kevin dagegen ist überzeugt, dass sein gegenwärtiges Leben äußerst lebenswert ist und auch seine Zukunftsperspektiven seinem Leben einen Sinn geben. Es ist genau das, was zu ihm passt und was er tun, bzw. wie er sein möchte.

2) Auf der Ebene der Bewältigung:
Alex befürchtet, dass er seine Ziele nicht verwirklichen kann, dass er nicht durchhalten kann, bzw. alles anders kommt, als er sich das vorstellt. Er sagt von sich selbst, dass er intelligent genug sei (also hier Ressourcen habe), aber zu dumm sei, dies für seine Ziele zu nutzen.

Kati sieht nur ihre Defizite (zu schüchtern, zu wenig eindeutig begabt), nicht ihr Stärken (sie ist intelligent, pflichtbewusst, musisch, künstlerisch begabt. Durch ihre Strategie kann sie kaum Erfahrungen des Gelingens ihrer Projekte machen, da sie sich keine richtigen Ziele steckt, bzw. von vornherein die Erwartungen minimiert.

Kevin dagegen ist überzeugt, dass er die Ziele, die er sich gesteckt hat, auch erreichen kann und die Energie hat, sich dafür einzusetzen. Er vertraut dabei, und dies unterscheidet ihn von Alex und Kati, auch auf die Hilfe seiner Freunde und seiner Freundin. Hier macht er Erfahrungen, die seine "inneren" Ressourcen stärken.

3) Auf der Verstehensebene
Kati und Kevin versuchen beide den Umgang mit Gefühlen, die ihnen Angst machen und die verletzen könnten, zu vermeiden. Kati zieht sich in sich selbst zurück und versucht solche Situationen zu vermeiden. Sie kann Situationen schwer einschätzen und wie sie sagt, kann man sich nie sicher sein, was passieren wird.

Auch Alex ist oft von Situationen und deren Bedeutung überrascht. Alex wünscht und arbeitet an einem "Panzer", der ihn unverwundbar macht, bzw. versteckt sich hinter Äußerlichkeiten, und hat so wenig Chancen, sich selbst in Situationen zu testen und daraus zu lernen. Kevin hat sich "Bereiche" geschaffen, in denen er sich wohlfühlt und in denen er Erfahrungen macht, die ihm helfen werden, auch andere, neue Situationen besser einschätzen zu können.

Aus der Gesundheitsforschung bin ich damit unversehens in die Identitätsforschung übergegangen und das nicht ohne guten Grund. Kohärenz ist nicht nur eine zentrale Basis für Gesundheit, sondern auch ein klassisches Kriterium für gelingende Identitätsarbeit. Und es mehreren sich Versuche, Identitätsarbeit selbst mit salutogenetischen Fragen zu verknüpfen. Alex, Kati und Kevin zeigen den hochindividualisierten Prozess der Identitätsbildung, dem Heranwachsende zunehmend zu bewältigen haben.

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