Leben mit "riskanten Chancen": Welche Kompetenzen zur
Lebensbewältigung brauchen Heranwachsende?
Im weiteren soll nun der Versuch unternommen werden, soziale und psychische
Bedingungen zu formulieren, die mir für eine produktive Nutzung der riskanten
Chancen der gegenwärtigen Lebenssituation wichtig erscheinen. Zugleich
verstehe ich diese Bedingungen als Orientierungs- und Ansatzpunkte für
psychosoziales Handeln. Bezugspunkt für die Frage nach den Kompetenzen zur
Gewinnung von Lebenssouveränität bilden für mich die zentralen
Grundbedürfnisse, die Heran-wachsende wie alle Subjekte in dieser
Gesellschaft haben.
(1) Für die Gewinnung von Lebenssouveränität ist ein Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens eine Voraussetzung, ein Urvertrauen zum Leben und seinen natürlichen Voraussetzungen. Das Gegenbild dazu ist die Demoralisierung, der Verlust der Hoffnung, in der eigenen Lebenswelt etwas sinnvoll gestalten zu können. Die Welt wird als nicht mehr lenkbar erlebt, als ein sich hochtourig bewegendes Rennauto, in dem die Insassen nicht wissen, ob es eine Lenkung besitzt und wie diese zu betätigen wäre. Die gewaltigen ökologischen Bedrohungen tragen sicherlich erheblich zu dem wachsenden Demoralisierungspegel bei, sie setzen fatale Bedingungen für "gelernte Hilf-" und "Hoffnungslosigkeit". Eine psychosoziale Perspektive, die für sich einen "ganzheitlichen" oder "lebensweltlichen Ansatz" in Anspruch nimmt, muss die basalen ökologischen Lebensbedingungen als zentralen Rahmen für die Entwicklung psychosozialer Ressourcen sehen lernen. Werte, die aus dieser Perspektive folgen, lassen sich als "ökologische Moral" bezeichnen. Die Standortdebatte überlagert gegenwärtig in gefährlicher Weise das Bewusstsein für die ökologischen Gefahren und Notwendigkeiten. Die Umwelt müsste auch für den Standort Deutschland Opfer bringen, kann man im öffentlichen Diskurs vernehmen. Dagegen stehen Projekte wie Agenda 21 und die Formulierung "ökologischer Kinderrechte". (2) Ein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden, bedarf materieller Ressourcen. Hier liegt das zentrale und höchst aktuelle sozial- und gesellschaftspolitische Problem. Eine Gesellschaft die sich ideologisch, politisch und ökonomisch fast ausschließlich auf die Regulationskraft des Marktes verlässt, vertieft die gesellschaftliche Spaltung und führt auch zu einer wachsenden Ungleichheit der Chancen an Lebensgestaltung. Hier holt uns immer wieder die klassische soziale Frage ein. Die Fähigkeit zu und die Erprobung von Projekten der Selbstorganisation sind ohne ausreichende materielle Absicherung nicht möglich. Ohne Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozess in Form von sinnvoller Tätigkeit und angemessener Bezahlung wird Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand, den auch ein "postmodernes Credo" nicht zu einem Reich der Freiheit aufwerten kann. In dieser Woche sind die Ergebnisse einer von der Arbeiterwohlfahrt beim Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik in Auftrag gegebenen Studie (http://www.Arbeiterwohlfahrt.de/presse/pd-2000-10-25) durch die Medien gegan-gen. Sie zeigt die Aktualität der materiellen Basissicherheit. 15% der Kinder in der BRD wachsen nach dieser Studie in Armut auf. Die unter 18-jährigen seien die größte von Armut betroffene Gruppe. Laut dieser Studie sind etwa 38% der armen Kinder in ihrem Spiel- und Sprachverhalten gestört, von Armut geprägte Kinder suchen seltener Kontakt zu anderen Kindern, nehmen eher passiv an Gruppenangeboten in Kindertagesstätten teil, an Klassenfahrten können sie aus materiellen Gründen häufig nicht teilnehmen, sie zeigen sich weniger wissbegierig und haben wegen häufiger Fehl- oder Mangelernährung mehr gesundheitliche Probleme und sind in ihrer körperlichen Entwicklung deutlich verzögert. Hier werden negative Zukunftschancen verteilt. Die intensive Suche nach zukunftsfähigen Modellen "materieller Grundsicherung" sind von höchster Wertepriorität. Die Koppelung sozialstaatlicher Leistungen an die Erwerbsarbeit erfüllt dieses Kriterium immer weniger. (3) Wenn wir die sozialen BaumeisterInnen unserer eigenen sozialen Lebenswelten und Netze sind, dann ist eine spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeit erforderlich, nennen wir sie soziale Ressourcen. Der Bestand immer schon vorhandener sozialer Bezüge wird geringer und der Teil unseres sozialen Beziehungsnetzes, den wir uns selbst schaffen und den wir durch Eigenaktivität aufrechterhalten (müssen), wird größer. Nun zeigen die entsprechenden Studien, dass das moderne Subjekt keineswegs ein "Einsiedlerkrebs" geworden ist, sondern im Durchschnitt ein größeres Netz eigeninitiierter sozialer Beziehungen aufweist, als es seine Vorläufergenerationen hatten: Freundeskreise, Nachbarschaftsaktivitäten, Interessengemeinschaften, Vereine, Selbsthilfegruppen, Initiativen. Es zeigt sich nur zunehmend auch, dass sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen offensichtlich besondere Defizite aufweisen bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten eigeninitiierten Beziehungsarbeit. Die sozialen Netzwerke von ArbeiterInnen z.B. sind in den Nach-kriegsjahrzehnten immer kleiner geworden. Von den engmaschigen und solidarischen Netzwerken der Arbeiterfamilien, wie sie noch in den 50er Jahren in einer Reihe klassischer Studien aufgezeigt wurden und in der Studentenbewegung teilweise romantisch überhöht wurden, ist nicht mehr viel übrig geblieben. Das "Eremitenklima" ist am ehesten hier zur Realität geworden. Unser "soziales Kapital", die sozialen Ressourcen, sind ganz offensichtlich wesentlich mitbestimmt von unserem Zugang zu "ökonomischem Kapital". Als Konsequenz für die Formulierung zukunftsfähiger Werte folgt die hohe Priorität für die Förderung von "Kontexten sozialer Anerkennung". Für offene, experimentelle, auf Autonomie zielende Identitätsentwürfe ist die Frage nach sozialen Beziehungsnetzen von allergrößter Bedeutung, in denen Menschen dazu ermutigt werden. Da gerade Menschen aus sozial benachteiligten Schichten nicht nur besonders viele Belastungen zu verarbeiten haben und die dafür erforderlichen Unterstützungsressourcen in ihren Lebenswelten eher unterentwickelt sind, halte ich die gezielte professionelle und sozialstaatliche Förderung der Netzwerkbildung bei diesen Bevölkerungsgruppen für besonders relevant. (4) Nicht mehr die Bereitschaft zur Übernahme von fertigen Paketen des "richtigen Lebens", sondern die Fähigkeit zum Aushandeln ist notwendig: Wenn es in unserer Alltagswelt keine unverrückbaren allgemein akzeptierten Normen mehr gibt, außer einigen Grundwerten, wenn wir keine Knigge mehr haben, der uns für alle wichtigen Lebenslagen das angemessene Verhalten vorgeben kann, dann müssen wir die Regeln, Normen, Ziele und Wege beständig neu aushandeln. Das kann nicht in Gestalt von Kommandosystemen erfolgen, sondern erfordert demokratische Willensbildung im Alltag, in den Familien, in der Schule, Universität, in der Arbeitswelt und in Initiativ- und Selbsthilfegruppen. Dazu gehört natürlich auch eine gehörige Portion von Konfliktfähigkeit. Die "demokratische Frage" ist durch die Etablierung des Parlamentarismus noch längst nicht abgehakt, sondern muss im Alltag verankert werden. Wie die Analyse von Taylor gezeigt hat, lebt die demokratische Zivilgesellschaft von "Partizipationsrechten". Gegenwärtig gibt es eine widersprüchliche Entwicklung: Die Wünsche von immer mehr Menschen gehen in Richtung einer Mitbeteiligung bei Angelegenheiten, die sie selbst betreffen. Das ist ein hohes demokratisches Potential. In der Wirtschaft wird es teilweise als produktions-fördernder Faktor genutzt. Volks- und Bürgerbegehren gehen in die gleiche Richtung. In anderen gesellschaftlichen Bereich setzt man eher auf napoleonische Lösungen: Die Stärkung der Führungsebene auf Kosten der Mitbestimmungschancen. Hier gilt es klar zugunsten von Partizipationsrechten zu votieren. Der 10. Kinder- und Jugendbericht der kurz vor der Bundestagswahl 1998 veröffentlicht wurde und der vor allem wegen seiner Aussage, dass die Armut von Kindern und Jugendlichen wachsen würde, zu einer heftigen Distanzierung der damaligen Regierung führte. Dort werden Heranwachsende, Kinder und Jugendliche, als "Subjekte" benannt und das heißt: "Nur weil Kinder Subjekte sind und sich in ihrem Subjekt-Sein entfalten, können Kinder zu aktiven Mitgliedern in Beziehungen und Gruppen, in Institutionen und der Gesellschaft werden" (S. 288). An anderer Stelle wird festgestellt: "Dann, wenn Kinder sich als Subjekte selber mit dem auseinandersetzen können, was ihre Gesellschaft ihnen an Kultur vermachen will, sehen wir die Wahrscheinlichkeit als am höchsten an, daß die nachwachsende Generation aus einer Haltung innerer Autonomie kritisch-ein-fühlsam übernehmen und weiterführen wird, was die Erwachsenen ihr anbieten. (...) Auf diesem Grundgedanken beruht auch das Vorhaben, Kinder an der Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse zu beteiligen, soweit immer es möglich erscheint" (S. 18). (5) Gesellschaftliche Freisetzungsprozesse bedeuten einen objektiven Zugewinn individueller Gestaltungskompetenz, aber auch deren Notwendigkeit. Sie erfordern vom Subjekt vermehrt die eigenwillige Verknüpfung und Kombination multipler Realitäten. Hier eröffnet sich ein subjektiver und gesellschaftlicher Raum für die Entwicklung jenes "Möglichkeitssinns", den Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften" entworfen hat. Er ermöglicht den Auszug aus dem "Gehäuse der Hörigkeit" (Max Weber) und führt uns an den Punkt, den Christa Wolf (1983) in ihrer Frankfurter Vorlesung zur Poetik so treffend formuliert hat: "Freude aus Verunsicherung ziehen". Aber sie verknüpft dieses positive Ziel gleich mit der skeptischen Frage: "wer hat uns das je beigebracht?" (1983). Als hätte sie hellseherisch die Situation in der DDR im Frühjahr 1990 beschrieben! Aber so verschie-den sind vermutlich auch wir Bürger in der BRD nicht, als dass diese Frage nicht auch für uns gelten würde. Die psychische Voraussetzung für eine positive Verunsicherung ist "Ambiguitätstoleranz". Sie meint die Fähigkeit, sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen, sie zu erkunden, sie nicht nach einem "Alles-oder-nichts"-Prinzip als nur gut oder nur böse zu beurteilen. Es geht also um die Überwindung des "Eindeutigkeitszwanges" und die Ermöglichung von neugieriger Exploration von Realitätsschichten, die einer verkürzenden instrumentellen Logik unzugänglich sind.. |
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