Der kalkulierende Blick

Der datensammelnde, objektivierende Blick der Naturwissenschaften wurde zum Erkenntnisideal der Moderne. Dieser "diagnostische Blick" erfordert eine spezifische Wahrnehmungsstrategie: "eine Art von blindem Sehen", wie Kleinbach sagt (Kleinbach 1993, 141).

Der so charakterisierte Blick unterscheidet sich wesensgemäß vom Sehen, Ansehen und Gesehenwerden: von der ganzheitlichen Wesensschau, der Gesamtschau, durch die ich mich durch ein Gegenüber "berühren" lasse.

Beispiel:

Ich kann mich durch eine angeschaute Trauerweide in Stimmung versetzen lassen; man kann diesen Baum auch aus der kalkulierend-ökonomischen Blick-Perspektive in Festmetern denken.

Die schlaffe Körperhaltung, die hängenden Schultern eines Kindes kann auf die innerpsychische Verfassung hinweisen; dem diagnostischen Blick erschließt sie sich als Haltungsschaden, der mittels spezifischer Übungen korrigiert werden muß.

Die Zappeligkeit des unruhigen, unkonzentrierten Kindes erscheint der paradigmatisch fixierten Blickbeschränkung als inadäquates Bewegungsverhalten, das der motorischen Absättigung bedarf; der Wesensschau eines empathischen Gegenübers erschließt sich diese Unruhe u.U. als sinnvolle Mitteilung eines Kindes, das sich in einer psychosozialen Notlage befindet.

Sie können mich wiegen, mich vermessen, meine Gesten biomechanisch erfassen; sie werden auf diesem Wege allerdings nie erfahren, was ich fühle und denke, wer ich meinem Wesen nach bin.

Der Blick als Diagnose-Instrument funktionalisiert das Sehen; er abstrahiert von der kommunikativen Wesensschau und zerlegt das menschliche Gegenüber – z.B. ein wie auch immer bewegungsauffälliges Kind - nach quantifizierbaren und objektiv verifizierbaren Größen.

Die in den Blick genommene Dingwahrnehmung und das Gewahrwerden des Anderen, die Wesens-Schau sind demnach zwei unterschiedliche, gegensätzliche Modi der Welterfassung, für die sich ein visuell Wahrnehmender mehr oder weniger bewußt entscheidet (vgl. Kleinbach 1993, 1994).

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