Wahrnehmung als subjektiv-sinnkonstituierendes Moment Das heißt: Wir konstruieren im Wahrnehmungsprozeß das, was wir wahrnehmen wollen. Allgemein formuliert heißt das: Die vom Betrachter visuell wahrgenommene Welt ist, wie wir seit den Erkenntnissen des Konstruktivismus wissen, immer eine dem Wesen nach subjektiv konstruierte Welt. Demnach entscheidet der Wahrnehmende mehr oder weniger bewußt darüber, was für ihn zum Wahren wird. In der Leib-Phänomenologie Merleau-Pontys ist dies das "Prä-Reflexive" im Wahrnehmungsprozess (vgl. Mattner 2000). Gemeint ist damit das bereits Gekannte, Erfahrene, ohne das das jeweilige Wahrgenommene bedeutungslos wäre. Ich kann also nur das sehen, was ich bereits kenne oder erwarte. Was bedeutet dies bezüglich einer diagnostischen Intention? Die Erwartungshaltung des Diagnostikers wird dann wirksam, wenn er beispielsweise vermittels paradigmatischer Blickbeschränkung seine Beobachtungen lediglich auf objektivierbare Daten beschränkt. In diesem Falle ist er im diagnostischen Erblicken von der Überzeugung geleitet, nur die durch subjektive Enthaltsamkeit gereinigte Daten seien von wissenschaftlicher Relevanz. Dem positivistischen Reinheitsgebot folgend, wird dieser Wissenschaftler menschliche Wesensphänomene auf empirisch-rational beobachtbare "Tatsachen" reduzieren. Dieses diagnostische Vorgehen erfordert die Enthaltung subjektiver Empfindungs- und Werturteile, die aus der Perspektive des naturwissenschaftlichen Erkenntnisideals dem Reich der Spekulation zugewiesen wurden (vgl. Mattner 1997, 33ff). Was schließen wir daraus? Die in der Diagnose-Situation gewonnenen Ergebnisse sind immer vom jeweiligen Erkenntnisideal geprägt: beispielsweise durch eine paradigmatisch fixierte Blickverengung oder durch eine überschäumende esoterisch infizierte subjektive Deutungslust. Das heißt konkret: Die vom Forscherblick erkannten Wesensbesonderheiten eines Kindes sagen offensichtlich mehr über den Diagnostiker aus als über das diagnostizierte Kind. Nur so ist es zu erklären, daß aus der jeweiligen Blick- und Beurteilungsperspektive ein "besonderes" Kind, das den institutionellen Normalitätsansprüchen nicht genügt, aus der einen Perspektive als interessiert, lebhaft und aus der anderen Perspektive als unkonzentriert, hyperkinetisch mit Krankheitswert erscheinen kann. Das heißt: Das "Andere der Normalität", das sog. "Störende" des Kindes, ist immer eine Frage der Blickperspektive, aus der es beurteilt wird. Eine vom diagnostischen Blick definierte Störung ist demnach zunächst nichts anderes als eine Differenz zwischen einer Erwartungshaltung einer zur Definition Störung berechtigten Person und deren Wirklichkeitsauffassung und einem Menschen, der dieser Erwartungshaltung aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zu entsprechen vermag. "Das heißt, wenn wir etwas als störend beschreiben, dann machen wir im Grunde keine Aussage über den Gegenstand, den wir beschreiben, sondern wir machen eine Aussage über unsere Art und Weise zu beobachten." (vgl. Walthes 1993, 149) Die pathologische Zuschreibung, die scheinbare Sinnlosigkeit eines gezeigten Verhaltens resultiert aus dem "Vor-Urteil" eines um Objektivität bemühten Beobachters, der dazu legitimiert ist zu entscheiden, das für ihn Unverständliche mit dem Etikett "sinn-los" oder "krank" zu versehen. |
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