Die motodiagnostische Blickbeschränkung

Neuhäuser hob ganz in diesem Sinne erst kürzlich den spezifisch therapeutische Stellenwert der Mototherapie hervor, indem er dort ausdrücklich darauf hinwies, daß die Mototherapie eine Methode zur Behandlung von Retardierungen und Störungen im psycho-motorischen Leistungs- und Verhaltensbereich, weshalb sie gewissermaßen eine "Lücke" zwischen Physiotherapie und Psychotherapie ausfülle und somit zwischen Psycho- und Physiotherapie anzusiedeln sei (vgl. Neuhäuser 1999). Die Mototherapie wird demnach weiterhin als eine Therapieform charakterisiert, mit deren Hilfe man über die Korrektur motorischer Fehlfunktionen eine Korrektur von Auffälligkeiten im Verhaltens- und Leistungsbereich von betroffenen Kindern erreichen könne; nämlich "alle Störungen im psychischen Bereich, die im engen Zusammenhang mit dem Bewegungsverhalten stehen" (vgl. Neuhäuser 1999, 107).

Auf dem Hintergrund dieser ursprünglich motologisch inspirierten impliziten Anthropologie – der sog Sekundärstörungshypothese - soll die motodiagnostische Blickfixierung des menschlichen Bewegungsgeschehens Rückschlüsse auf den Verhaltensbereich und damit auf den Persönlichkeitsbereich des jeweiligen Menschen zulassen , wie dies z.B. Schilling schon früher immer wieder betonte:

"Das Kind, das nur unzureichend sich und seinen Körper beherrscht und seine Willkürmotorik kontrollieren kann, zeigt jedoch sehr häufig Sekundärstörungen im emotionalen und sozialen Bereich. Verhaltensauffälligkeiten, Schulschwierigkeiten, Ängste, Unsicherheiten, Konzentrationsstörungen und Leistungsversagen sind häufig vordergründige Vorstellungsgründe, die bei einer genaueren Motodiagnostischen Untersuchung Zusammenhänge zu motorischen Auffälligkeiten, Retardierungen und Störungen erkennem lassen." (Schilling 1984a, 101f)

Mit dieser "Sekundärstörungs-Hypothese" und dem damit verbundenen impliziten Menschenbild hat ein überzeugter Motodiagnostiker lediglich die motorische Störungen eines verhaltensauffälligen Kindes in den Blick zu nehmen, weil er mit der motologischen Selbstgewißheit davon ausgehen darf, daß diese motodiagnostisch erfaßten motorischen Abweichungen als Primärstörungen für vielfältige "neurotische" Verhaltensweisen verantwortlich sind (Schilling 1986b, 63). In seiner anschließenden mototherapeutischen Behandlungstrategie darf er sich dann zur Beseitigung der "neurotischen Verhaltensweisen" lediglich auf Altbewährtes konzentrieren wie der: "Entwicklung der Sensorik, des Körper-Schemas, der Raum-Zeit-Orientierung, der Körperkoordination, der Auge-Hand-Koordination und der manuellen Geschicklichkeit, der Lateralisation, der Graphomotorik" (Schilling 1988, 127). Im Zuge dieser motologischen Gewissheit weiß dieser Motologe, daß er über die Korrektur insuffizienter somatischer Funktionsbereiche quasi automatisch die inadäquate "psychisch-emotionale Steuerung" erreichen wird.

Die "Moto-Logik" will hier, wie es ursprünglich hieß, einen bisher unentdeckten menschlichen Befindlichkeitsbereich ("Zwischenbereich") "zwischen den Polen ‘normal’ und ‘gestört’" entdeckt haben, der nur durch den mototherapeutischen Blick verifizierbar sei. Gemeint sind die genannten "leichten motorischen Behinderungen", die als Primärstörungen für die Sekundärstörungen im psychischen Bereich verantwortlich seien, und die aufgrund fehlenden diagnostischen Inventars von neurologisch-psychiatrischer Seite meist unerkannt blieben (vgl. Schilling 1984a, 101f; 1984b, 12; 1986b, 63).

Diese motologische Selbstgewißheit und das damit verbundene implizite Menschenbild ist m.E. nach wie vor dafür verantwortlich, daß im motologischen Setting verhaltensauffällige Kinder vielfach lediglich psychomotorisch beübt werden, weil man in der motologischen Selbstgewißheit davon ausgehen darf, daß sich diese motorischen Übungssequenzen schon irgendwie "sekundär" stabilisierend auf die Gesamtpersönlichkeit betroffener Kinder auswirken werden. Als Beleg der Fortschritte scheint es dann zu genügen, lediglich auf die positiven Veränderungen der motometrisch ermittelten Daten zu verweisen.

 

Halten wir also fest:

Die motodiagnostische Blickfixierung ist im impliziten Menschenbildes der "Moto-Logik" mit folgenden Hypothesen begründet:

In der Hervorhebung der menschliche Motorik als Hauptentwicklungsfaktor der menschlichen Persönlichkeit.

Mit der Annahme, menschliche Wesensbesonderheiten resultieren kompensatorisch (sekundär) aus einer defizitären Motorik bzw. – wie früher angenommen wurde - auf einer minimalen cerebrale Dysfunktionen (MCD).

Einer damit verbundenen therapeutischen Selbstgewissheit: die mittels mototherapeutisch vorgenommener Korrektur motorischer Fehlfunktionen hätten einen positiven Einfluß auf die psychische Gesamtbefindlichkeit des menschlichen Individuums.

Die paradigmatische Blickbeschränkung und dem damit verbundenen impliziten Menschenbild der "Moto-Logik" haben folgende konkrete Konsequenzen:

Durch diese monokausale Zugangsweise zum jeweiligen Phänomen wird tendenziell jegliche Abweichung von einer vorab definierten Norm zum Beleg einer zugrundeliegenden Krankheit.

Den spezifischen Verhaltensbesonderheiten betroffener Kinder wird keinerlei Bedeutung beigemessen: das gezeigte Verhalten ist anormal und damit bedeutungslos, also ohne Sinn.

Andere mögliche Verursachungsfaktoren, die verursachende Auslöser für ein Verhaltensphänomen sein könnten, bleiben ausgeblendet.

Der Vorteil dieser Sichtweise von menschlicher Subjektivität liegt auf der Hand:

Es bietet den mototherapeutisch Tätigen und seiner Klientel Orientierungs- und Handlungssicherheit. Die Mototherapie kann sich auf bewährte motologische bzw. psychomotorische Übungsinhalte konzentrieren, die zwar ganzheitlich-spielerisch, kindzentriert angeboten werden sollen, aber letztlich vom defizit- und funktionsorientierten Blick der jeweiligen psychomotorisch Tätigen dominiert sind. Auf dem Hintergrund dieses impliziten Menschenbildes der "Moto-Logik" waren seither die meisten kindlichen Verhaltensauffälligkeiten "aufgepfropfte Verhaltensstörungen" bei "Kindern mit zerebraler Dysfunktion" (Schilling 1977a, 48). Auf diese Weise wurde in den 80er Jahren die "minimale cerebrale Dysfunktion" (MCD) zur eigentlichen "Domäne" der Mototherapie erhoben. Denn, so wurde argumentiert, die MCD sei erst durch die Motodiagnostik erfaßbar und durch die Mototherapie adäquat behandelbar (vgl. Hünnekens 1981, 197; Kiphard 1981, 78; Schilling 1980, 62; 1986a, 734; 1986b, 63).

Dieser ätiologische Zusammenhang taucht bei Neuhäuser allerdings so nicht mehr auf, was wohl u.a. daran liegen kann, daß die "Epidemie" einer sog "Minimalen cerebralen Dysfunktion" (MCD) bei Schulkindern inzwischen insgesamt abgeklungen zu sein scheint, was weniger auf hoch-effiziente Therapiemaßnahmen als vielmehr auf kritische Einwände von kinderpsychiatrischer Seite gegen diese wild um sich greifende Modediagnose zurückzuführen ist (vgl. Esser/Schmidt 1987).

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