Neuorientierung

Alle weiterentwickelten Formen von therapeutischer Unterstützung betonen den Dialog. Im Dialog steckt die Achtung für den anderen, die Akzeptanz seines Seins. Der Dialog braucht zwei gleichgewichtete Stimmen, braucht das Hören aufeinander. Dialog tut sich schwer mit Verordnungen, mit Stillmachen, Dialog kann nur zwischen Gleichberechtigten stattfinden.
Eine der Persönlichkeit des Menschen zugeneigte Grundhaltung ist auch in der Psychomotorik zu finden, jedenfalls in der Theorie. Um aber überhaupt an Klienten zu kommen, bedarf es heftigen Augenzudrücken, weil die meisten doch über die medizinisch- therapeutische Schiene zu uns kommen. Und die hat den Defekt zum Ausgangspunkt. Wie darum rummogeln?
Ich schließe mich Monika Aly an: Sie fordert, daß nicht der Therapeut bestimmen darf, was das Kind lernen soll, sondern ermöglichen soll, daß das Kind einen jeweils eigenen Weg fin-det. Der Therapeut soll dazu "die Fäden der (vorhandenen) Normalität aufgreifen".
(Monika Aly: Therapie - Versuch einer persönlichen Bilanz, 1997 in http://bidok.uibk.ac.at/)

Aus dieser methodischen Neuorientierung sind auch Forderungen an die Politik zu stellen. Es ist eigentlich nicht mit den Menschenrechten vereinbar, daß diese Defektorientierung zu Isolation und Aussonderung der Menschen führt. Und es ist erst recht nicht akzeptabel, daß Aussonderungen therapeutisch verschleiert werden
Nicht direkt sichtbar, dafür aber um so spürbarer für die Betroffenen, geschieht Ausgrenzung durch die ständige und mit System betriebene Sonderbehandlung, durch die Therapeutisierung des Alltags. (Michael Wunder: Wider die Therapiesucht! Vorwort zu Teil II, in: Wunder, Michael/ Sierck, Udo (Hrsg.)(1987): Sie nennen es Fürsorge: Behinderte zwischen Vernichtung und Widerstand; mit Beiträgen vom Gesundheitstag Hamburg , 2.Auflage; Frankfurt am Main: Dr.med.Mabuse)

Die Rückführung der Therapie in den Alltag steht also auf dem Plan. Wege dorthin sind: Die Therapie steigt von ihrem Roß und ist Dienerin, als solche, war sie gemeint dem Wortsinne nach. Damit gehen eine Fülle von Distanzierungsformalitäten wie Diagnose, Besserwissen und Fachjargon zum Teufel, dafür kann aus der Therapieszene ein heilsamer Impuls zur Akzeptanz von vielerlei unterschiedlichen Lebensformen und -möglichkeiten ausgehen; mit der Gefahr des Verlustes der therapeutischen Existenz und dem Gewinn der Akzeptanz für unter-schiedliche Lebenskonzepte und - realisierung.

Ich weiß, daß viele die Psychomotorik wählten, damit sie ihrer eigenen besonderen Existenz Raum geben können, dies aber - sicher so nicht beabsichtigt- auf Kosten anderer. Die Selbstbewußtwerdung und die Selbsterkenntnis ist gerade für Therapeuten grundlegende Voraussetzung für das "richtige" therapeutische Handeln.

Wir haben das Glück, die Individualität jedes Lebewesen zu feiern und das Pech, daß dies immer häufiger nur noch unter therapeutischen Vorzeichen möglich wird: Therapie ist der Platz, wo ich sein darf, wie ich bin und gleichzeitig fordert das Umfeld sofort Therapie, wenn ich nur ein bißchen von der Norm abweiche.
Wir wissen alle, daß gewisse Schäden nicht heilbar sind. Wir können aber auf die Persönlichkeitsentwicklung des behinderten Kindes Einfluß nehmen, indem wir versuchen, seine Umwelt anzupassen. So hat das Kind Gelegenheit, nicht nur in den einzelnen Therapiestunden, sondern viel öfter seine Fähigkeiten zu erproben und zu vermehren. Das Kind lernt durch schwierige, (ihm angemessene) Aufgaben und durch die wachsende Komplexität des Lebens, sein Spektrum von Lösungen auf seine Weise zu erweitern. Es lernt so bewußter die Grenzen und Möglichkeiten seiner Behinderung kennen, um damit selbständig(er) zu leben.
(Monika Aly: Therapie - Versuch einer persönlichen Bilanz, 1997 in http://bidok.uibk.ac.at/)

Der Prozeß des Zusammenleben hat sich verändert: Alte Muster prallen auf unfertige neue Strukturen: Schnelligkeit ist Trumpf und Zeit haben wir alle nicht mehr. Entwicklung soll schnell gehen, Reifung und zusammen Wachsen weicht dem Start -Up. Dem Durchstarten und Hier und jetzt sofort, alles ist möglich. Zyklen, Tag und Nacht, Rückzug und Fortschritt, weichen dem "Es geht voran, keine Atempause."
Entwicklung braucht Zeit, Wahrnehmung braucht Zeit und wer hat die schon.

Der Mensch ist ein großer Rhythmiker und schafft sich Gegenbewegungen, sucht Balance und findet den Ausgleich. Aus Therapeuten werden Entschleuniger; solche, die den Druck aus dem Werden heraus nehmen, die dem Sein vielmehr Aufmerksamkeit schenken, die nicht sofort verändern wollen, sondern die Gegenwart, das So-Sein einer Existenz feiern. Die dem, was ist, Achtung und Aufmerksamkeit entgegenbringen und dadurch einen heilsamen Einfluß haben: Im Sinne der Ganzwerdung, des Heilseins.
Es gibt keinen Grund, die Existenz eines anderen Menschen in Frage zu stellen. Und es gibt noch wesentlichere Gründe, diese Haltung zu entwickeln.
Die Entwicklung der modernen Physik hat uns gezeigt, daß Licht sowohl Welle als auch Teilchen ist. Das, was wir sehen, hängt davon ab, welche Versuchsanordnung der Beobachter wählt. Wenn wir aber das eine erkennen, bleibt uns das andere verborgen, d.h. wissenschaftliche Erkenntnis ist immer an den Standort des Beobachters gekoppelt und bedarf deshalb im Sinne von Nils Bohr der Komplementarität. Die Entscheidung des Wissenschaftlers, der zu-gleich immer auch Teil des zu beobachtenden Systems ist, kann weder falsch noch richtig sein. Von dort her kann er nie für sich in Anspruch nehmen, die Realität bestimmen zu können. (Hans von Lüpke/Reinhard Voß: Einleitung. Entwicklung im Netzwerk - im Netzwerk der Entwicklung. in: von Lüpke, Hans/Voß, Reinhard (Hrsg.)(2000): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. 3.Auflage, Neuwied, Kriftel: Luchterhand, S.1)

Das, was wir für Realität halten, ist bestenfalls eine Konstruktion von Realität, die mehr auf den Konstrukteur als auf die beschriebene Realität hinweist. Die Distanzierung des Wissenschaftlers von seinem Forschungsgegenstand kann deshalb nicht mehr aufrechterhalten werden. Zuordnungen und Etikettierungen, die handelnde Subjekte nicht kennt, nicht benennt, die Dinge statt Menschen nennt, kommen zwar scheinbar wissenschaftlich daher, gehören aber tatsächlich zu Haltungen, die unter wissenschaftlichem Aspekt nicht mehr aufrecht erhalten werden können.
So wird im medizinischen Bereich die nicht mehr überschaubare Vielfalt der Einflußgrößen mit Begriffen wie "polyätiologisch" oder "multifaktoriell" aufgefangen, ohne das Konzept der Kausalität als solches in Frage zu stellen . (Hans von Lüpke/Reinhard Voß: Einleitung. Entwicklung im Netzwerk - im Netzwerk der Entwicklung. in: von Lüpke, Hans/Voß, Reinhard (Hrsg.)(2000): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. 3.Auflage, Neuwied, Kriftel: Luchterhand, S.4)

Sätze, wie folgende, kennzeichnen diese Haltung:
Generell wird eine multifaktorielle Genese hyperkinetischer Störungen angenommen, wobei biologischen und konstitutionellen Merkmalen eine entscheidende ursächliche Rolle zukommt, während psychosozioale Faktoren die Ausprägung und den Verlauf der Störung wesentlich beeinflußen können. (M. DÖPFNER: Hyperkinetische Störungen, in: Petermann, Franz (Hrsg.)(2000): Lehrbuch der klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie. Göttingen: Hofgreve, S.160)

Döpfner stellt eine scheinbar objektive Welt vor, in der weder handelnde noch behandelte Personen, stattdessen aber lauter Sachen (Es wird angenommen..) vorkommen.
Aber wie überhaupt eine Sprache entwickeln, die das Verbunden-Sein, die Komplexität und Komplementarität in Worte fasst und unsere Konstruktion von Wirklichkeit abbildet.
Vielleicht so:
Ich will probieren, die Dinge mit deinen Augen zu sehen und mich in deine Welt hineinzufinden, ganz egal, was ich davon halte, was ich darüber denke und fühle. In dem Maße, wie es mir gelingt in deine phänomenale Welt einzukehren und deine inneren Reaktionen nachzuvoll-ziehen, in dem Maße fühlst du dich verstanden und bekommst mehr und mehr Mut, auch jene Teile deiner inneren Welt anzuschauen, die du vielleicht für beschämend, lächerlich oder bedrohlich gehalten hast.
(Thomann, Christoph/Schulz von Thun, Friedemann (1995): Klärungshilfe. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Reinbek: Rowohlt, S.78f)

Wie klar und erholsam sind solche Konstruktionen von Wirklichkeit, weil sie den eigenen Anteil an der Schaffung von Wirklichkeit klar benennen.
Eine Annäherung an den anderen - auch wenn er Klient ist- wird angeboten; das Einfühlen, nicht die Besserwisserei ist Grundlage des Miteinanderarbeitens. Nicht die Diagnose ist ent-scheidend, -egal, was ich davon halte - sondern das Miteinander-in-der-Welt-Sein schafft Veränderung, wird zur Therapie.

Oder anders formuliert:
Dafür eignet sich das Konzept vom Dialog (Milani Comparetti Dokumentation,1996). Hier geht es nicht darum, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen, sondern im Zusammenspiel mit dem Partner (den Partnern) zu gemeinsamen, nicht vorhersehbaren, auch für die Beteiligten selbst immer wieder überraschenden Resultaten zu gelangen. Diese, von Milani Comparetti als Spirale vorgestellte Bewegung ist für ihn die Dimension der Kreativität. Die Helfer geben keine Ziele an, sie begleiten, bieten einen Kontext für Erfahrungen, um damit die eigene Entwick-lung zu "konstruieren". Zuhören und Beobachten werden wichtiger als "Machen". (Hans von Lüpke/Reinhard Voß: Einleitung. Entwicklung im Netzwerk - im Netzwerk der Entwicklung. in: von Lüpke, Hans/Voß, Reinhard (Hrsg.)(2000): Entwicklung im Netzwerk. Systemisches Denken und professionsübergreifendes Handeln in der Entwicklungsförderung. 3.Auflage, Neuwied, Kriftel: Luchterhand, S.5f)

Dazu nochmal Monika Aly
Fördernde Interventionen können diese selbständige Bewegungsentwicklung stören. Sie können das Kind - gerade auch das behinderte Kind - aus seinem Rhythmus bringen, es verunsichern, vor allem aber die Abhängigkeit vom Erwachsenen fördern.
Und über die Vorreiter der italienischen Anti-Psychiatrie:
Beide schenkten dem ersten "Schritt", also der ersten Kontaktaufnahme des Kindes mit seiner Umwelt, große Aufmerksamkeit. Milani verglich diesen Kontakt mit einer offenen Spirale: Frühbehandlung heißt für mich heute nicht mehr frühzeitige Intervention. Frühbehandlung heißt, durch Beobachtung die Entwicklungskompetenz des Säuglings kennenzulernen und auf äußere Bedingungen Einfluß zu nehmen. Das heißt auch, den Eltern beratend zur Seite zu stehen und helfend zu ordnen - Milani bezeichnete dies als Management-Aufgabe. Es geht dabei nicht um besonders frühe manuelle Intervention, die stets mit der Behauptung vom sonst "verpaßten Zeitpunkt" gerechtfertigt wird. Verpassen können sich in dieser frühen Lebensphase viel eher das Kind selbst und seine Eltern. Schließlich geht es darum, mit dem Kind einen gemeinsamen Alltag zu leben. Der Weg dahin ist lang und darf nicht dadurch behindert werden, daß Eltern zu Kotherapeuten gemacht werden. Sie brauchen Zeit, viel Zeit, sich die-sem Kind anzunähern und es auch nehmen zu können, so wie es ist.

(Monika Aly: Therapie - Versuch einer persönlichen Bilanz, 1997 in http://bidok.uibk.ac.at/)

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