4. Ein - druck. Aus - druck.

Psychomotorik hat sich als eigenständiger Ansatz entwickelt. Der bekannte Schweizer Mediziner, Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. H.S. HERZKA formuliert 'Psychomotorik' in seinen sich vernetzenden Anteilen von Psyche und Motorik sehr anschaulich: "Ist Psychomotorik nicht eine körperliche Therapieform, die sich um eine möglichst genaue Analyse der Bewegungsstörungen und um die therapeutische Erarbeitung anderer, richtigerer Bewegungsabläufe und Muster bemüht? Es gibt namhafte Psychomotorikvertreter, die sich von der Psychotherapie entschieden abgrenzen. Aber auch sie wissen - und andere vertreten dies ausdrücklich - dass schon bei der Entstehung von Bewegungsstörungen nicht nur biologische Faktoren mitwirken, sowie dass es einem in seinem Bewegungsverhalten beeinträchtigten oder behinderten Kind, je nach den seelischen Umständen, 'motorisch' besser oder schlechter 'geht'. Wer einen psychomotorischen Therapieverlauf verfolgt, kann stets beobachten, dass sich dabei ein psychischer Entwicklungsprozeß abspielt.
Bewegungstherapie ist ein Zugang zur Zwei-Einheit von Seele und Leib; es ist der Weg über die Beeinflussung des Bewegungsverhaltens. Dieses ist das Spezialgebiet der Psychomotorik.(...) Der Bewegungsorganismus des Menschen ist, dem Begriff 'Motorik' zum Trotz, kein Motor. Alles was in den Bewegungen geschieht, bewegt auch das Seelische (und umgekehrt). Wechselbeziehungen zeigen sich etwa in der Stimmung, in der Selbsteinschätzung, in den Beziehungen zum Therapeuten und zu den Mitmenschen, in der Bereitschaft etwas zu wagen und etwas zu leisten.(...Weitere Gesichtspunkte sind etwa) dass es neue Formen der Koordination von motorischen oder seelischen Impulsen findet, dass es eine andere und in der Regel mehr ganzheitliche Art der Steuerung erprobt und einübt, und dass es bei diesem Reorganisationsprozeß seiner Per-sönlichkeit sowohl Grenzen spürt, wie auch Unterstützung erfährt.
Wie in anderen ernstzunehmenden Therapieverfahren geht es in der Psychomotorik keineswegs nur darum, Bewegungen zu beeinflussen, sondern vielmehr um eine sinnvollere und zweckmäßigere Art der Regie für das ganzheitliche Zusammenspiel von Seele und Körper unter Respektierung und Wahrung ihrer Eigenheiten." (HERZKA 1991, 11f)
Psychomotorik allein unter motorischen Aspekten zu sehen, versteckt das " ganzheitliche Zusammenspiel von Seele und Körper unter Respektierung und Wahrung ihrer Eigenheiten" (HERZKA 1991,12). Gesellschaftliche Wirklichkeit postmoderner Entwicklung drückt sich in die leib- und lebensweltliche Realität von Kindern und Jugendlichen eindrücklich ein, wie auch die Biographie von Laura exemplarisch zeigt:

"Nein, sagt Laura Ernst, sie habe nicht immer in Göttingen gewohnt, geboren sei sie in Herdekke. Die ersten Wochen des Lebens werden selbstbewußt (ihres Selbst bewußt) in die Biographie eingegliedert.
Die acht Jahre ihres bisherigen Lebens sind deutlich strukturiert. Die ersten fünf Jahre wohnte sie mit ihren Eltern in einer Wohnung des Studentenheims. Nach der Trennung der Eltern war ihre Mutter ein halbes Jahr in Irland, es gab zwei längere Besuche. Als die Mutter, die von Laura oft Barbara genannt wird, zurückkam, wohnte sie nicht mehr bei Lauras Vater. Und bevor Laura in die Schule kam, gerade sechs Jahre alt, war sie mit Barbara in eine Wohngemeinschaft gezo-gen, in der zwei weitere Erwachsene wohnen. Der Vater ist vor nicht langer Zeit in eine benach-barte Stadt gewechselt. So ist Lauras Biographie gewoben zwischen die ihrer Eltern, die sich voneinander entfernen.
Noch bis vor einem Jahr hat sie mit der Renitenz eines Kindes, ihre Sicht der Dinge unmißverständlich deklariert. "Für mich seid ihr Frau und Mann", hat sie zu Barbara gesagt (sie meinend und ihren Vater), "denn ihr habt ja mich als Kind". So hat sie die Liebe der Eltern beschworen, der sie ihr Dasein verdankt. Aber irgendwann waren die Realitäten stärker.
Die Mutter hat wieder einen Partner gefunden (er lebt derzeit in Rom), und der Vater lebt mit einer anderen Frau zusammen, die, um das Spiel zu verwirren, auch Barbara heißt. Etwa jedes zweite Wochenende ist Laura dort, wo sie in einem Zimmer einen Teil ihrer Habe deponiert hat; das Leben an zwei Orten will minutiös geplant sein. Dort hat sie keine Spielkameraden, aber die volle Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Manchmal fährt sie "in der Woche auch zu Papa, aber der hat mich - wenn - dann erst um sechs abgeholt". Die Nebensätze des Alltagslebens schärfen offenbar auch den Sinn für Grammatik.
Der Lebensstandard eines Landes läßt sich vielleicht am leichtesten darüber beschreiben, was einem Kind zukommt (weil das Kind später, wenn es keines mehr ist, den Gegenwert seiner Arbeitsleistung an dem bis dahin Genossenen messen wird): Laura war schon in Irland (zweimal), auf Kreta und Korfu, in Marokko, in Spanien und überallhin mit dem Flugzeug. Bevor sie acht Jahre alt ist, wird sie in San Francisco gewesen sein. Hier zeigt sich die Konstruktion, zwei Haushalten anzugehören, von seiner vorteilhaften Seite. Sie ist gewissermaßen Einzelkind zweier imaginärer Familien, die erst dann (äußerlich) Familien sind, wenn sie auch da ist. Andererseits muß sie der Wunschstruktur, die jedes Einzelkind belastet, auch standhalten. Von zwei möglichen Varianten, der stillen ernsten und der lebendig verspielten, hat Laura Ernst klar die zweite gewählt. Ihre Chance besteht darin, die vielen Kontakte, die sich ihr bieten, auch zu nutzen. Wenn ihre Freunde bei ihr zu Besuch sind und jeder der Erwachsenen in ihrer 'WG' einen Besucher hat -so unser Modellspiel- finden sich auf den hundert Quadratmetern zehn Leute ein. Jeder der vier Bewohner, Barbara, Laura, Henrik und Silke, hat ein eigenes Zimmer. Der transportable Fernseher steht auf dem Flur bereit, meist ungenutzt. Man langweilt sich nicht.
Ein Leben zu führen, ist eine Sache, es für andere nachvollziehbar zu machen eine andere. So mußte Laura die Frage, wieso Barbara jetzt 'mit einem anderen Mann' zusammensei, im ersten Schuljahr beantworten können - eigentlich, bevor sie es selbst akzeptiert hatte. In ganz alltäglichen Situationen wird offenbar, daß der statistische Normalfall in den Köpfen noch nicht etabliert ist. Da kommt z. B. der Anruf einer Schulkameradin, die Laura zum Geburtstag einlädt. Den entsprechenden Tag sollte Laura beim Vater verbringen, weshalb sie am Telefon sagt, sie müsse erst ihren Vater anrufen. Das löst zunächst Verwirrung aus: Warum mußt du ihn anrufen, ist er denn nicht zu Haus? Aber auch Lehrer pflegen das Vater-Mutter-Kind-Modell in normativer Weise. Unter einer Wohngemeinschaft kann sich, andererseits, in einer Studentenstadt fast jeder etwas vorstellen.
Nicht umsonst sind die Ähnlichkeiten der in den siebziger Jahren aufgekommenen 'neuen Lebensformen' mit der althergebrachten Großfamilie bemerkt worden. Barbara, die Mutter, entgeht dabei dem engen Entwurf der 'alleinerziehenden Mutter'. Sie ist verantwortlich (sie hat das Sorgerecht, das Kind trägt ihren Namne), aber sie muß sich nicht um jedes Detail selbst kümmern. Auch sie hat ein eigenes Leben.
Der stabilste Verband in Lauras Biographie - von der Koalition Mutter/Kind mal abgesehen- ist ihre Clique: Moritz, Stella, Kaya, Laura. In der (Klein-)Kindergruppe im Studentenheim haben sie sich kennengelernt, vor sechs Jahren. 'Wir machen fast alles zusammen', sagt Laura. Sie besuchen dieselbe Schule in der Innenstadt, sie singen zusammen im Schulchor, und sie machen zusammen 'dancing sports' in einem privaten Studio. Sie treffen sich reihum - die Familien von Moritz, Stella, Kaya sind 'noch' traditionelle Kleinfamilien mit drei oder vier Personen. Zu den bevorzugten Spielen gehört .... nun, Familie zu spielen. Da ist Moritz der Vater, Stella die Mutter, Kaya das Kind und Laura -körperlich die Kleinste- 'das kleine Kind'. Die Vier sind aus der Sicht Barbaras 'die besten Freunde, die sie je unter Kindern kennengelernt habe'.
Barbara ist, wie inzwischen nicht wenige Mediziner, für einige Zeit ohne Arbeit. Sie sucht eine Stelle, in der sie sich als Fachärztin qualifizieren kann. Der mögliche Ortswechsel, der damit verbunden wäre, ist angesichts der sorgfältig austarierten Lebensverhältnisse natürlich 'ein ganz heißes Eisen'. Auch die Familie der dritten Art hat ihre Tabus." (Bayerische Rückversicherung 1997, 18 ff)


Im Wandel gesellschaftlicher Veränderungen von der Moderne zu einer Postmodernen Gesellschaft (vgl. KEUPP 1994, 1994a, 1994b; BECK-GERNSHEIM 1994; BECK / BECK-GERNSHEIM 1994a, 1994a; BAUMANN 1996; METZMACHER / ZAEPFEL 1996; BAYE-RISCHE RÜCKVERSICHERUNG 1997) erscheint mit dem Zug zur Individualisierung das Doppelgesicht sog. 'riskanter Freiheiten' (vgl. BECK / BECK-GERNSHEIM 1994; KLINK 1997; BUNDESMINISTERIUM 1998). Laura lebt in den Brüchigkeiten und von Auflösung begiffener sozialer Lebensformen. Mit ihrer Freisetzung aus traditionellen Bindungen (wie Familie, dörfliche Gemeinschaft, Religion, soziale Klasse...) entstehen für sie einerseits enorme Mög-lichkeiten, z.B. räumlich innerhalb kürzester Zeit aus dem Flugzeug aus- und direkt in andere Kulturen einzusteigen oder sozial neue Einbindungen und Netzwerke herzustellen; dies mit der Chance, vielfältige neue Handlungs- und Wahlmöglichkeiten nutzen zu können. Frühere, relativ geschlossene Lebenswelten werden privat wie auch beruflich offener - doch andererseits auch mit neuen Werten, Maßstäben, Anforderungen besetzt. Laura wird nichts geschenkt; sie muß selbst aktiv sein und durch eigenes Handeln ihre eigene Biographie gestalten und selbst verantworten. Es gibt keine Sicherheit - weder für sie, noch für ihre Mutter, denn auch bei ihr schlägt sich das Los durch: selbst wenn man Medizin studiert hat, kann man arbeitslos sein. Die Normalbiographie wird so zur Bastelbiographie, Wahlbiographie, Drahtseilbiographie (BECK / BECK-GERNSHEIM 1994, 13; HITZLER / HONER 1994). "Hier muß man erobern, in der Konkurrenz um begrenzte Ressourcen sich durchzusetzen verstehen - und dies nicht nur einmal, sondern tagtäglich" (BECK / BECK-GERNSHEIM 1994,12). Diese 'riskanten Freiheiten' sind jedoch nicht individuell bestimmbar, sondern gesellschaftlich kontrolliert durch ein Netz von Regelungen, Maßgaben, Erklärungen, Bestimmungen..."Individualisierung, so gesehen, ist eine gesellschaftliche Dynamik, die nicht auf einer freien Entscheidung der Individuen beruht (...) Individualisierung ist ein Zwang, ein paradoxer allerdings, zur Herstellung, Selbstgestaltung, Selbstinszenierung nicht nur der eigenen Biographie, sondern auch ihrer Einbindung und Netzwerke, und dies im Wechsel der Präferenzen und Lebensphasen und unter dauernder Abstimmung mit anderen und den Vorgaben vom Arbeitsmarkt, Bildungssystem, Wohlfahrtsstaat usw.(...) es werden Abstimmungs-, Koordinations- und Integrationsleistungen nötig. Die Individuen müssen, um nicht zu scheitern, langfristig planen und den Umständen sich anpassen können, müssen organisieren und improvisieren, Ziele entwerfen, Hindernisse erkennen, Niederlagen einstecken und neue Anfänge versuchen. Sie brauchen Initiative, Zähigkeit, Flexibilität und Fru-strationstoleranz" (BECK / BECK-GERNSHEIM 1994,14 f). Drei Hauptlinien von 'Individualisierung' lassen sich in der Modernisierungsdebatte erkennen: "Wo von Individualisierung die Rede ist, wird zum einen verwiesen auf die Befreiung aus traditionellen Kontrollen; zum anderen auf den Verlust traditioneller Stabilitäten; und drittens schließlich auf das Entstehen neuer Bindungen und Kontrollen" (BECK-GERNSHEIM 1994a,127) Lauras Biographie verdeutlicht diese drei Ebenen sehr eindrücklich. Doch wo finden Kinder im postmodernen Suchen nach Nischen, im 'Durchrauschen' von Codes, Design, auf der ständigen Suche nach neuen Rollen und Drehbüchern, im Finden von 'Patchwork-Identität' ihre Heimat, ihr (Selbst-) Vertrauen? "Kinder der Postmoderne wachsen in eine Welt hinein, die einem gigantischen 'Multiple-Choice-Test' gleicht. Es ist nie erlaubt, nur eine Lösung anzukreuzen. Das werdende Leben muß sich so rüsten, daß es eine Selbst- und Ich-Struktur ausbildet, die eine Art privater Ozonschicht gleicht." (METZMACHER / ZAEPFEL 1996,57).
Postmoderne Realität heißt, daß wir über gesellschaftlichen Entwicklungen und Bedingungen sehr viel offener und verletzlicher werden. Sehr viel nicht-greifbarer. Sehr viel sensibler und in der Persönlichkeitsentwicklung unklarer. Es sind vermehrt Situationen, daß der Boden der Gesellschaft und der Identität brüchig werden. Brüchig im Selbstwertgefühl. Brüchig in der Konstanz von Beziehungen im Zusammenleben. (8)

Kinder brauchen jedoch Eindeutigkeiten, um mit Mehrdeutigkeiten umgehen zu können; sie benötigen zur Identitätsbildung ein verläßliches Erleben von Selbstvertrauen und Beziehungsraum (vgl. MATURANA / VERDEN-ZÖLLER 1997). Denn aus den empirischen Befunden der neueren Kleinkind- und Säuglingsforschung (PETZOLD 1993a; DORNES 1993, STERN 1994) wissen wir, daß "sich die Entwicklung von Ich-Stärke sowie Selbst- und Weltvertrauen aus der Art und Weise (ergibt), wie das Kind krisenhafte Statuspassagen und kritische Lebensereignisse subjektiv zufriedenstellend zu handhaben vermag. Die Kontinuität eine Selbstgefühls als Selbstwert und Selbstachtung ist abhängig davon, ob die frühere 'Kompetenz des Säuglings' im beziehungssprachlichen Dialog mit den bedeutsamen Anderen anerkannt und lebendig gespiegelt wird (vgl. Kuntz 1998). Auf dieser Grundlage kann sich ein positives Selbstempfinden und ein intersubjektives Selbsterleben herausbilden" (METZMACHER / ZAEPFEL 1996,58; i.d.S. auch Kuntz 1997, 1999). (9)


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